Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Fingern, betrachtete es und hob dann den Blick zum mit tintenschwarzen Flecken überzogenen Himmel. Leise klickend öffnete sich das Medaillon. Dann setzte sich ein Mechanismus in Gang, und auf der goldenen Oberfläche zeigten sich Wörter – die Beschwörungsformel erschien. Oksa sah ihre Großmutter an und wartete auf ihr Zeichen.
»Die Zeit drückt die Dringlichkeit der Tat aus«, mahnte der Plemplem.
»Gib mir noch eine Minute, lieber Plemplem«, bat Dragomira mit brüchiger Stimme. »Nur noch eine Minute.«
Sie umarmte ihre Freunde einen nach dem anderen, bei Abakum und Pavel ließ sie sich besonders viel Zeit. Als nur noch Oksa übrig war, trat sie zögernd zu ihrer Enkelin. Tränen standen in ihren schönen Augen. Sie drückte Oksa fest an sich.
»Es wird alles gut gehen, Baba«, murmelte Oksa. »Mach dir keine Sorgen! Bald bist du wieder in Edefia, deiner verlorenen Welt!«
Dragomira stellte sich hinter ihre Enkelin und legte die Arme um sie. In völliger Stille erlosch der Wegweiser und sank langsam in den Goshun-See. Da nahm das Wasser eine ganz unglaubliche Farbe an, die aus der Tiefe der Erde zu kommen schien.
»Der Phönix …«, murmelte Remineszens.
Oksa hob den Kopf. Der feuerrote Vogel nahte heran und wurde zusehends größer, seine weiten Schwingen schlugen kraftvoll, in einem ruhigen Tempo.
»Er ist wunderschön!«, sagte Oksa leise.
Der Phönix flog über die Rette-sich-wer-kann und die Treubrüchigen hinweg und ließ sich zu Füßen der Jungen Huldvollen nieder. Seine Spannweite glich der eines Adlers, seine Erscheinung war jedoch viel leuchtender, als würde jede einzelne seiner Federn aus Feuer und Gold bestehen. Seine winzigen Augen strahlten so intensiv wie brodelnde Lava. Der Phönix verbeugte sich respektvoll, wobei das kleine Federbüschel auf seinem Kopf auf und ab wiegte. Oksa kniete sich hin und streckte die Hand aus, um das wunderbare Wesen zu streicheln. Sogleich ergriff eine unbekannte Erregung von ihr Besitz.
»Was … Was soll ich jetzt tun?«, stammelte sie.
Dragomira drückte sie noch enger an sich. Oksa spürte den rasenden Herzschlag ihrer Großmutter an ihrem Rücken. Zitternd streckte die alte Dame das Medaillon vor sich aus, sodass beide die Beschwörungsformel lesen konnten, die an ihren Augen vorbeizog.
Ihr werdet die verlorene Welt wiederfinden,
Wenn die Erzfeinde
Ihre Kräfte bündeln.
Dann wird der Phönix
Sein Volk im Exil
Durch das Tor führen,
Das aus der Kraft
Beider Huldvollen geboren wird.
Das Geheimnis-das-nicht-enthüllt-werden-darf ist nicht mehr,
Doch noch besteht Hoffnung für die beiden Welten.
Möge das Tor
Das Geheimnis seiner Öffnung preisgeben.
Einige Sekunden verstrichen. Dann schwang sich der Phönix in die Lüfte auf, und sein schöner Gesang klang in allen Herzen wider, während er in der Abenddämmerung verschwand.
Das Schicksal schlägt zu
T
ausende von Malen hatte Oksa sich diesen Moment vorgestellt, auf die unterschiedlichsten Weisen, aber alle hatten etwas mit Magie, mit Aufregung und Abenteuer zu tun. Doch als sie nun die Rette-sich-wer-kann und die Treubrüchigen sah, die in einem kunterbunten Durcheinander buchstäblich von einer Art Nichts angesogen wurden, begriff sie, dass die Realität nichts mit ihren Phantasien zu tun hatte. Zahllose Angstschreie erklangen, sobald die Rette-sich-wer-kann die Grenze zwischen beiden Welten überschritten. Oksa spürte, dass sie von Dragomira getrennt wurde, deren Hand sich in ihrer eigenen aufzulösen schien, und sie sah Orthon, Naftali, Tugdual, Gregor an sich vorbeifliegen … aber keinen einzigen Von-Draußen. Ihr stockte das Herz. Ihr Vater warf einen letzten verzweifelten Blick zurück, bevor er von Marie getrennt wurde und in etwas verschwand, das erschreckende Ähnlichkeit mit einem schwarzen Loch hatte. Dann wurde Oksa selbst ebenfalls von dieser unwiderstehlichen Kraft angezogen.
Sie ließ es geschehen – ihr blieb ohnehin nichts anderes übrig. Deutlich nahm sie wahr, wie sie einen goldenen Lichthof durchquerte, dessen vage Umrisse sie an einen Geist erinnerten. Einen Moment später landete sie mit einem unsanften Plumps auf einer Düne, die sich in nichts von der unterschied, die sie verlassen hatte, außer dass das Licht hier intensiver war und sie blendendete. Viele Rette-sich-wer-kann und Treubrüchige waren da, benommen, aber wohlauf. Ihr Vater, Abakum, Naftali … alle musterten sie niedergeschlagen. Sie hatten es geschafft. Doch der Preis dafür war
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