Oksa Pollock. Der Treubrüchige
würde nichts bringen, außer dem Risiko, dabei zu sterben.«
»Abakum!«, rief Oksa verängstigt.
»Von innen heraus haben wir mehr Macht.«
»Der Sand im Getriebe, Kleine Huldvolle«, fügte Tugdual hinzu und drückte ihre Hand.
Oksa schluckte, unterdrückte ihre Furcht und trat langsam aus dem Kreis der Rette-sich-wer-kann und ihrer Geschöpfe heraus, um sich vor sie zu stellen. Ocious grinste teuflisch.
»Willkommen in Edefia, verehrte Huldvolle!«
Ein verlockendes Angebot
L
angsam vertikalierten die Rette-sich-wer-kann in Begleitung oder vielmehr unter Bewachung der Treubrüchigen am Himmel. Die Geschöpfe und die Silvabulaner, die das nicht konnten, ließen sich von den Haselhühnern tragen. Die dicken Vögel schlugen bedächtig mit den Flügeln und gackerten dabei schrill. An der Spitze der Gruppe flog Ocious, mit Sohn und Enkeln an seiner Seite.
»Er ist ja noch schlimmer als Orthon«, sagte Oksa, die ihn nicht aus den Augen ließ.
»Als Ätzmittel ist er jedenfalls unschlagbar«, antwortete Tugdual, der neben ihr vertikalierte.
»Wir dürfen nicht vergessen, dass er an allem schuld ist«, flüsterte Pavel.
»Aber Orthon hat das Spiel noch nicht mal eröffnet«, sagte Tugdual. »Und er hält alle Trümpfe in der Hand. Wenn der loslegt, tut es bestimmt ganz schön weh.«
»Garantiert!«
Oksa löste den Blick von Ocious und betrachtete die Landschaft. Edefia … Die verlorene Welt, die sie nun endlich wiedergefunden hatten. Dies war also die heiß ersehnte Rückkehr. Edefia hatte sehr gelitten. In dem metallischen Licht sah sie, dass Staub sich auf alles Lebendige gelegt hatte, bis hin zum kleinsten Grashalm. Alles schien dahinzusiechen. Baumskelette reckten ihre toten Äste wie vertrocknete Klauen in den Himmel. Einer von ihnen fiel durch seine ungeheure Größe auf. Man konnte noch erkennen, wie stattlich er einmal gewesen sein musste.
»Ein Majestik«, sagte Brune zutiefst betrübt. »Was ist nur aus unserer Welt geworden?«
Ein Majestik? Oksa dachte an die Bilder, die sie in Dragomiras Filmauge gesehen hatte: ein dichter Wald um den Saga-See mit seinem frischen, klaren Wasser. Dort hatte sich ein Majestik-Baum gut dreißig Meter über die anderen Wipfel erhoben, er trug seinen Namen zu Recht. Diese Bilder hatten nichts mit der Staubwüste und den verdorrten Pflanzen zu tun, die sie nun umgaben. Nur am Horizont zeigte sich so etwas wie Leben, denn dort bewegte sich das Licht selbst – als hätten Polarlichter den äußersten Zipfel dieser seltsamen Welt erobert. Der übrige Himmel war bleigrau, es sah aus, als würde er im Sterben liegen. Oksa holte ihre Sonnenbrille aus dem Rucksack, um sich gegen das intensive Leuchten der metallischen Lichtreflexe am Horizont zu schützen. Einige andere taten es ihr gleich. Oksa spürte ein Ziehen am ganzen Körper, all ihre Muskeln arbeiteten. Noch nie war sie so lange vertikaliert – auch noch nie so frei und ungezwungen. Wobei Freiheit ein relativer Begriff war, denn momentan war sie quasi eine Gefangene der Treubrüchigen. Dennoch, es war eine gewisse Freiheit. In Edefia würde sie endlich sie selbst sein können. Ja, in Edefia würde sie es sogar müssen! Stöhnend streckte sie die Arme aus, um ihre Muskeln zu lockern.
»Möchtest du dich zu Abakum auf das Haselhuhn setzen?«, fragte Pavel besorgt.
Sie schüttelte den Kopf. Die körperliche Anstrengung war nebensächlich. Viel mehr beschäftigte sie ihr seelischer Zustand. Sie war vollkommen durcheinander, so aufgewühlt und zerrissen wie noch nie – zumindest fühlte es sich so an. Doch sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen. Um gegen Ocious und seine Sippe anzukommen, war höchste Konzentration erforderlich. Um ihr Gefühlsleben würde sie sich also später kümmern müssen.
Das rötlich gefiederte Haselhuhn trug Abakum und die Geschöpfe in einem Tempo, das man als quälend langsam hätte bezeichnen können, so sehr trödelte es. Doch sein Gehirn arbeitete währenddessen auf Hochtouren. Vorsichtshalber übernahm Dragomiras Plemplem die Aufgabe, Abakum den Plan vorzulegen, den der Vogel sich ausgedacht hatte.
»Das Haselhuhn erteilt den Vorschlag eines Fluchtplans«, flüsterte er Abakum unter dem misstrauischen Blick eines Treubrüchigen zu. »Seine Muskelkraft und seine unvermutete Schnelligkeit können dem Feenmann behilflich sein, sich dem Zugriff der Kerkermeister zu entziehen.«
Abakum ließ sich nicht anmerken, in welches Dilemma ihn der Vorschlag brachte. Die Sensibyllen, die
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