Oksa Pollock. Der Treubrüchige
dumpfer Schrei löste sich aus ihrer Kehle, doch er verschaffte ihr keine Erleichterung. Schließlich sah sie im Geist das entsetzte Gesicht ihrer Mutter vor sich. Entsetzt, weil sie ihre Familie vorbeiziehen sah und selbst an der Schwelle zu deren neuem Leben zurückblieb. Und Gus? Sie sah seine Augen wieder aufleuchten, als sie ihn geküsst hatte. Als wäre er im siebten Himmel … Sie erinnerte sich an die letzten Worte, die sie gewechselt hatten, an Gus’ Wunsch, genau zu wissen, was sie für Tugdual empfand. Oksa stellte sie sich vor, wie sie einsam und verlassen mitten in der Wüste Gobi saßen. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Was sollte aus ihnen werden? Würden sie endlos umherirren? Neuen Naturkatastrophen zum Opfer fallen?
»Ihr müsst in der fest verankerten Gewissheit leben, dass nur der Tod die Untröstlichkeit der Herzen mit sich bringt«, meldete sich da der Plemplem mit leiser Stimme. »Doch es ist kein Tod zu betrauern. Und solange der Tod sein Auge nicht auf die Lebenden geworfen hat, kennt die Hoffnung das Fortbestehen. Diese Wahrheit darf sich niemals aus dem Bewusstsein entfernen.«
Oksa erhob sich wieder. Sie ließ den Blick über die trostlose Wüste schweifen, wandte sich dann dem rundlichen Geschöpf zu und gab ihm einen innigen Kuss auf die Wange.
»Du bist der Beste, lieber Plemplem!«, flüsterte sie. »Danke. Du hast recht, alles ist besser als der Tod. Aber Baba …«
Erneut versagte ihr die Stimme.
»Die Öffnung des Tores hat das Verschwinden der Alten Huldvollen hervorgerufen, doch ihre Seele befindet sich in der feenhaften Gesellschaft der Alterslosen, nunmehr ihresgleichen, und sie wird die Einsetzung in eine Rolle von großer Tragweite und Macht erfahren.«
Der Kapiernix humpelte mühsam herbei. Er reckte die Nase in die Luft und legte genau die Arglosigkeit an den Tag, die Oksa an ihm so liebte.
»Ich verstehe kein Wort von dem, was diese seltsame Person sagt«, stellte er mit einem Blick auf den Plemplem fest.
Alle Geschöpfe hatten sich hinter ihm versammelt. Sie waren traurig, aber fest entschlossen, der neuen Huldvollen zu zeigen, dass sie zu ihr hielten. Eine Sensibylle flog zu Oksa und legte ihr den kleinen goldenen Käfig, den Dragomira bis vor wenigen Minuten um den Hals getragen hatte, vor die Füße.
»Die Pizzikins!«
Gerührt befreite Oksa die winzigen Vögel, während die Sensibylle sich in ihre Hand schmiegte.
»Obwohl ich offen gestanden das relativ milde Klima hier genieße, muss ich sagen, meine Huldvolle, dass ich mit Euch leide. Aber der Plemplem hat völlig recht: Nur der Tod ist wirklich schlimm. Eure Mutter, Euer Freund und alle anderen, die nicht durch das Tor gekommen sind, sind viel stärker, als Ihr glaubt.«
»Eure Dienerschaft möchte die Hinzufügung eines mit Wichtigkeit gespickten Ratschlags betreiben«, meldete sich der Plemplem wieder zu Wort. »Ihr müsst eine Überzeugung wahren: Ihr seid die Huldvolle, und Euren Kräften wird die Vervielfachung und die Ausdehnung widerfahren.«
»Das Geheimnis-das-nicht-enthüllt-werden-darf …«, murmelte Oksa.
»Das Geheimnis-das-nicht-enthüllt-werden-darf gibt es nicht mehr«, wandte die Sensibylle ein.
»Wie nett von dir, unsere letzte Hoffnung zu zerstören«, maulte der zappelnde Getorix.
»Aber das Geheimnis-das-nicht-enthüllt-werden-darf kann eine Entwicklung in eine neue Form erfahren«, fügte der Plemplem hinzu.
Oksa ließ diese Informationen auf sich wirken. Dann riss sie plötzlich die Augen auf. Es gab eine Möglichkeit … Eine einzige, so kleine und doch so große Möglichkeit: den Glauben daran, dass immer noch Hoffnung bestand. Sie sah ihren Vater an, der das Gesicht in den Händen verborgen hatte, Abakum, Zoé, Tugdual … und all die anderen Rette-sich-wer-kann und Treubrüchigen. Dann wischte sie sich wütend mit dem Handrücken die Wangen ab und sagte voll neuem Mut: »Ich habe verstanden, lieber Plemplem: Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung! Und umgekehrt: Ohne Hoffnung gibt es kein Leben!«
Der Plemplem nickte, worauf Oksa ihn vom Boden aufhob und fest an sich drückte. Die Hoffnung. Das Einzige, was ihnen noch blieb. Und das Einzige, was ihnen dabei helfen konnte weiterzuleben.
Das Empfangskomitee
P
lötzlich erhob sich Abakum und blickte besorgt in die Ferne: Am stahlgrauen Himmel von Edefia kam eine Gruppe von Menschen mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Die einen vertikalierten, die anderen hielten sich an einer Art fliegender Planken fest,
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