Oksa Pollock. Die Entschwundenen
ehrt das gefährliche Gemälde in Gesellschaft der vom Unglück verfolgten Remineszens. Lasst Euer Herz von dieser Gewissheit geziert sein.«
»Wenn du nur recht hättest …«, murmelte Pierre und rieb sich verzweifelt die Hände.
»Der Plemplem spricht immer die Wahrheit, das weißt du«, sagte Dragomira mit einem traurigen Lächeln. »Aber ich denke, wir können noch mehr erfahren, indem wir die Sensibylle befragen«, fügte sie hinzu und erhob sich.
Sie raffte ihren üppigen grauen Seidenrock zusammen, ging aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit dem winzigen, vor Kälte zitternden Huhn zurück.
»Meine Lieben«, sagte sie, an Oksa und Zoé gewandt, während sie die Sensibylle streichelte, die sich bibbernd an sie schmiegte. »Dieses kleine verfrorene Geschöpf hat nicht nur das Talent, eisige Luftströmungen zu orten oder vorherzusagen, um wie viel Grad die Temperatur fallen wird. Es hat noch eine ganz andere außergewöhnliche Gabe: Es kann die Wahrheit enthüllen. Wenn uns irgendjemand sagen kann, was passiert ist, dann die Sensibylle!«
Aller Augen richteten sich gespannt auf das kleine Huhn, das sich, von einem heftigen Kälteschauder geschüttelt, noch tiefer in die Mohairweste der Baba Pollock kuschelte.
»Sensibylle, Gus ist eingemäldet worden«, sagte die alte Dame.
»Das weiß ich auch«, erwiderte das Geschöpf übellaunig. »Aber kann mir vielleicht mal jemand sagen, weshalb es hier so kalt ist, obwohl eigentlich Hochsommer ist?«
»Darf ich dich daran erinnern, dass wir uns in London befinden, also oberhalb des einundfünfzigsten Breitengrads, weit weg von den Tropen, und dass es immerhin zweiundzwanzig Grad warm ist?«, merkte Leomido leicht genervt an.
»Mag sein!«, gab die Sensibylle in feindseligem Ton zurück und plusterte vor Empörung ihre kleinen rotbraunen Flügel auf. »Aber man darf ja wohl etwas angenehmere Temperaturen erwarten.«
Oksa grinste Zoé an und verdrehte die Augen: Die Sensibylle ließ aber auch nie eine Gelegenheit aus, sich über das britische Wetter zu beklagen.
»Kannst du uns sagen, was mit dem Gemälde passiert ist?«, fragte Dragomira mit lauter Stimme, um dem Gerede über die klimatischen Verhältnisse ein Ende zu setzen. »Ist das Herz-Erforsch einem Fluch zum Opfer gefallen?«
»Aber natürlich!«, erwiderte die Sensibylle sofort. »Das Herz-Erforsch hat einen tragischen Irrtum begangen, indem es Remineszens anstelle ihres Zwillingsbruders, des Treubrüchigen Orthon, eingesogen hat. Er hätte eigentlich wegen seiner vielen Vergehen eingemäldet werden sollen, nicht sie. Und seither tickt das Herz-Erforsch nicht mehr richtig. Es ist komplett durchgedreht wegen seines Fehlers, was ich übrigens auch gleich tue, wenn nicht endlich jemand dieses Fenster zumacht!«, rief das Geschöpf mit seiner piepsigen Stimme. »Ich friere mir hier das Gefieder ab, hört ihr?«
Leomido erhob sich mit einem Seufzer, um das Fenster zu schließen, durch das ein Hauch lauwarmer Luft hereindrang.
»Der Irrtum des Herz-Erforschs ist eigentlich leicht zu erklären«, fuhr die Sensibylle fort. »Denn Remineszens und Orthon besitzen eine fast identische DNA, und so kam es zu der Verwechslung – ob gewollt oder versehentlich, wer weiß das schon?«
»Und was ist mit Gus? Was weißt du darüber?«, fragte Dragomira.
»Seit seinem Fehler in Bezug auf die Zwillinge ist das Herz-Erforsch in einem Zustand völliger Verwirrung«, erklärte die Sensibylle ernst. »Der Junge hätte nicht eingemäldet werden dürfen. Auf keinen Fall dürfen sich zwei Personen im selben Gemälde befinden.«
Die Sensibylle hob atemlos das Köpfchen und schmiegte sich wieder zitternd an Dragomira, als wäre sie bis auf die Knochen durchgefroren.
»Und eigentlich war die Junge Huldvolle gerufen worden …«
»Um Himmels willen!« Dragomira griff sich vor Schreck ans Herz.
»Aber wie konnte sich das Herz-Erforsch denn dermaßen täuschen?«, fragte Oksa empört. »Ich weiß ja nicht, ob euch das schon aufgefallen ist, aber Gus und ich sehen uns nicht besonders ähnlich! Man muss schon komplett bekloppt sein, um uns beide zu verwechseln …«
»Sensibylle, du hast von der fast identischen DNA von Remineszens und Orthon gesprochen«, meldete sich Zoé zu Wort und zupfte dabei nervös am Ärmel ihres T-Shirts. »Könnte es dann nicht einfach sein, dass Gus irgendetwas mit Oksas DNA an sich trug und dass das Herz-Erforsch deshalb durcheinandergekommen ist?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte die
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