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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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Schwindel!«
    Trotz der Tragik der Situation löste Oksas Empörung bei allen ein Schmunzeln aus.
    »Der Delinquent muss nicht den anderen den Beweis für seine charakterliche Besserung erbringen«, schaltete sich der Plemplem ein. »Die Eingemäldung selbst liefert den Beweis, und das Herz-Erforsch nimmt die Beurteilung vor.«
    Oksa schnalzte skeptisch mit der Zunge.
    »Entschuldige bitte, lieber Plemplem. Normalerweise kann ich dir ja folgen, aber jetzt verstehe ich nur Bahnhof …«
    »Darin liegt eben die Komplexität der Eingemäldung, von der ich vorhin sprach«, fuhr Naftali wieder fort. »Wird jemand wegen eines schweren Vergehens festgenommen, so wird er der Huldvollen vorgeführt, die dann verfügen kann, ihn dem Bann der Eingemäldung zu unterwerfen. Dazu wird eine Art Strafleinwand – eine Leinwand mit Zauberkräften, hergestellt von den Alterslosen Feen – ausgerollt und auf einen Rahmen gespannt. Das Verbrechen wird laut vorgetragen und schreibt sich dabei auf der Leinwand ein. Der Beschuldigte haucht die Schrift an, sein Atem verteilt sich auf dem Stoff, bis er das Herz-Erforsch erreicht. Das Herz-Erforsch ist der Geist der Leinwand, es ist zugleich ihr Kern und ihr Meister. Sobald das Herz-Erforsch den Atem und die Missetaten des Beschuldigten aufgenommen hat, begibt es sich in dessen Herz und erforscht es bis in seine tiefsten Abgründe und entlegensten Winkel. Nach einigen Stunden des Abwägens entscheidet es, ob der Beschuldigte die Eingemäldung verdient hat oder nicht. Wenn ja, so richtet das Herz-Erforsch eine Reihe von Prüfungen speziell für diesen Missetäter ein, die ihm dabei helfen sollen, sich zu vervollkommnen. Diese Prüfungen werden unauslöschlich im Inneren der Leinwand niedergeschrieben, und sie bereitet sich darauf vor, den Missetäter aufzunehmen. Sein Abbild überträgt sich währenddessen allmählich auf die Fasern der Leinwand. Schließlich muss der Betroffene einen Tropfen Blut abgeben, damit seine Identität sichergestellt ist, und dann wird er in das Innere des Gemäldes hineingesogen. Dort muss er die Prüfungen bestehen, die das Herz-Erforsch ihm auferlegt hat. Wenn er sie besteht – wenn es ihm also gelingt, seine eigenen Dämonen zu bändigen und sein Bestes zu geben –, kommt er am Ende wieder frei.«
    Eine Zeit lang schwiegen alle. Schwere Atemzüge waren zu hören, und aus den Blicken der Rette-sich-wer-kann sprachen die schlimmsten Befürchtungen.
    Wieder einmal stellte Oksa die alles entscheidende Frage: »Kann sich das Herz-Erforsch irren?«
    Sie sah kurz zu Gus’ Eltern, die sich mehr als alle anderen vor der Antwort fürchteten.
    »Das ist unmöglich«, brachte Naftali schweren Herzens hervor. »Das Herz-Erforsch unterzieht niemals einen Unschuldigen einer Eingemäldung.«
    »Woher willst du das so sicher wissen?«, fragte Oksa.
    »Ich war bei mehreren Urteilsfindungen dabei, bei denen eine Eingemäldung in Erwägung gezogen wurde«, erwiderte Naftali. »Das Herz-Erforsch hat sich kein einziges Mal getäuscht. Selbst wenn wir von der Schuld einer Person felsenfest überzeugt waren, stellte sich am Ende heraus, dass wir es waren, die sich getäuscht hatten. Und noch etwas kann ich euch dazu sagen: In der gesamten Geschichte Edefias wurden nur Menschen eingemäldet, die anderen nach dem Leben getrachtet hatten.«
    »Aber Gus hat doch niemanden umgebracht!«, rief Oksa empört aus. »Warum also? Warum wurde er eingemäldet?«
    Naftali blickte erst die Junge Huldvolle an, dann Gus’ Eltern und flüsterte schließlich mit erstickter Stimme: »Ich fürchte, dass das Herz-Erforsch einem Fluch zum Opfer gefallen ist.«

Ein tragischer Irrtum
    A
ls über dem Bigtoe Square der Tag anbrach, hatten sich die Rette-sich-wer-kann mit der schrecklichen Tatsache abgefunden. Keiner verstand, wie so etwas hatte passieren können, doch in ihrem tiefsten Herzen wussten alle, dass Gus eingemäldet worden war. Jeanne und Pierre Bellanger waren völlig niedergeschlagen, und ihre Freunde gaben sich alle Mühe, ihnen Mut zu machen. Am erfolgreichsten erwies sich darin Dragomiras Plemplem.
    »Der Plemplem besitzt die Kenntnis vom Geheimnis des Lebens und des Todes«, sagte er und legte Gus’ Mutter seine Patschhand auf die Schulter. »Er beherrscht die Ortung dessen, was lebendig ist, und dessen, was es nie mehr sein wird. Der gegenwärtige Augenblick ist von vollkommener Sicherheit begleitet: Der Freund der Jungen Huldvollen ist mit Lebendigkeit erfüllt, und seine Gegenwart

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