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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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Oksa hatte treffen sollen. Obwohl Pavel gar nichts dafürkonnte, empfand er die schlimme Erkrankung seiner Frau als eine persönliche Niederlage. Dieser Schmerz saß so tief, dass nichts und niemand ihn darüber hinwegtrösten konnte. Bis jetzt war er für keinen eine große Hilfe gewesen. Es war an der Zeit zu beweisen, dass die anderen genauso auf ihn zählen konnten wie auf Leomido oder Abakum.
    »Mach dich fertig, Oksa«, sagte er mit gepresster Stimme. »Holen wir uns dieses Gemälde.«
    Als sie vor dem eindrucksvollen Gebäude der St.-Proximus-Schule ankamen – es lag nur ein paar Straßen vom Bigtoe Square entfernt –, war die Nacht endgültig hereingebrochen. Allerdings war die Straßenbeleuchtung so hell, dass sie das Vorhaben von Vater und Tochter Pollock hätte gefährden können. Im Gegensatz zu Oksa war Pavel sich sehr wohl bewusst, wie riskant es war, mitten in der Nacht in das Schulgebäude einzudringen. Und er hatte nicht vor, in irgendeiner Form Gewalt anzuwenden. Oh nein! Es würde sich nur um eine kurze Stippvisite handeln, und ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten würden dafür sorgen, dass niemand etwas davon bemerkte. Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Straßenlampen, die sofort eine nach der anderen ausgingen: Die Straße war in Dunkelheit getaucht. Oksa stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
    »Genial!«, flüsterte sie. »Das muss ich unbedingt lernen.«
    »Los jetzt«, murmelte ihr Vater und zog sich sein schwarzes Halstuch vors Gesicht.
    »Du siehst aus wie ein richtiger Ninja, Papa!«, stellte Oksa mit einem bewundernden Blick auf ihren Vater fest, der von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war.
    »Du auch, Oksa-san«, gab er flüsternd zurück.
    »Ich bin bereit, verehrter Meister«, raunte sie und zog sich ebenfalls eine Stoffmaske über die Nase.
    Sie sah noch, wie ein trauriges, verzweifeltes Lächeln in den Augen ihres Vaters aufblitzte, dann schwang er sich auch schon geschmeidig wie ein Tier an der Mauer der St.-Proximus-Schule empor. Mit der Beweglichkeit einer Spinne fanden seine Füße und Hände Halt an den Steinen, und im Nu hatte er die Mauerkrone erreicht. Oksa hatte begeistert zugesehen und gesellte sich nun mit einem perfekten Vertikalflug zu ihm. Hand in Hand landeten die beiden jenseits der Mauer wieder auf dem Boden.
    Das Schulgebäude lag still und dunkel da. Keine Menschenseele schien sich darin zu regen. Nur der Springbrunnen mitten im Hof wirkte lebendig mit seinen gleichmäßig plätschernden Wasserstrahlen. Die Wasserspeier oben am Dach zeichneten sich als Silhouetten gegen den von den Lichtern der Stadt orangegelb schimmernden Nachthimmel ab. Oksa blickte mit einem Schaudern zu den fratzenhaften Steinfiguren hinauf und stellte sich flüchtig vor, dass sie sich im nächsten Augenblick von ihrem steinernen Joch befreien, auf sie herabstürzen und sie verschlingen würden.
    »Los, beeilen wir uns«, mahnte Pavel und schob sie auf den Kreuzgang zu, der den Hof umschloss.
    Schweigend schlichen sie sich in einen der vier Flure im Erdgeschoss. Der Mond warf ein kaltes Licht auf die großen, polierten Steinfliesen des Korridors und die Reihe der Statuen, die ihn säumten. Oksa verspürte eine eigenartige Unruhe und warf nervös einen Blick über die Schulter. Sie hatte das ungute Gefühl, verfolgt zu werden. Vielleicht Abakum? Hatte der Feenmann sich wieder in einen Schatten verwandelt, um sie zu begleiten und zu beschützen? Aber nein, da war kein Schatten. Nur der starre Blick der Statuen. Oksas Herz schlug so heftig, dass ihr fast schwindlig wurde. Was war bloß mit ihr los? Hatte sie etwa Angst? Das wäre allerdings das erste Mal! Wenn Gus jetzt bei ihr wäre, würde er ihr von der Seite einen verwunderten Blick zuwerfen, sie kräftig anrempeln und sagen: »He, Ninja-Oksa, der Angsthase bin ich, nicht du!« Gus … Wie er ihr fehlte! Was wäre, wenn die Rette-sich-wer-kann keine Lösung fanden? Wenn der Fluch, der auf dem Herz-Erforsch lastete, so stark war, dass keiner von ihnen ihn brechen konnte? Oksa erschrak über diesen Gedanken. Dann wäre ihr treuer Freund für immer in diesem teuflischen Gemälde verschwunden. Panik schnürte ihr die Kehle zu, sie rang keuchend nach Luft und starrte mit weit aufgerissenen Augen eine der Statuen an, die sie mit strengem Blick zu fixieren schien. Das Ringelpupo an ihrem Handgelenk fing zu pulsieren an, da es merkte, wie unwohl sich seine Herrin fühlte. Ein Beben durchlief Oksas Körper, dann breitete sich ein Prickeln

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