Oksa Pollock. Die Entschwundenen
nicht gerade neu: Das kleine Geschöpf regte sich so schnell und mit einer solchen Heftigkeit auf, dass es einen immer wieder verblüffte. Auch diesmal konnte sich keiner der Rette-sich-wer-kann ein Schmunzeln verkneifen.
»Im Augenblick schreit hier nur einer, nämlich dieses hysterische Huhn da«, bemerkte dazu ein anderes ziemlich haariges Geschöpf.
»Sei still, Getorix«, wies ihn Oksa amüsiert zurecht. »Sonst handelst du dir noch Ärger ein.«
Nach mehreren Minuten wandte sich die Sensibylle schließlich um und plusterte sich auf.
»Ich bitte um Eure Aufmerksamkeit«, sagte sie, und alle warteten gebannt auf ihren Bericht.
»Das wird auch langsam Zeit«, brummte der Getorix.
»Wir hören dir zu, Sensibylle«, sagte Dragomira und setzte sich in ihrem Sessel zurecht. »Erzähl uns, was du weißt.«
»Die Angelegenheit ist schlimm und ziemlich vertrackt«, begann die Sensibylle in ernstem Ton. »Das Herz-Erforsch ist nicht mehr Herr des Gemäldes: Das Böse hat die Macht übernommen und trachtet danach, das Herz einer Huldvollen anzuziehen. Hat es sich getäuscht, als es Gus anzog? Ist der Junge Opfer eines neuerlichen verhängnisvollen Irrtums geworden? Oder hat das Böse ihn sich absichtlich geholt? Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, weil meine Sinne von dem ganzen Durcheinander verwirrt sind. Das Einzige, was ich ganz deutlich erspüren kann, ist, dass die Zeit drängt: Der Junge und die alte Dame sind zwar im Besitz einer tödlichen Waffe, doch ohne die Hilfe ihrer Freunde haben sie keine Chance zu überleben. Sie müssen ebenfalls eingemäldet werden, um ihnen zu Hilfe zu kommen.«
Ein Schauder schüttelte die Sensibylle.
»Was ist?«, fragte Dragomira.
»Dieser Ort! Das ist die Hölle!«, stieß sie hervor.
»Was genau siehst du?«
»Es ähnelt keinem Ort, den ich kenne. Eine große Verwirrung und eine unheilvolle Kraft trüben meine Sicht.«
Mit Tränen in den Augen streichelte Dragomira das Gefieder des kleinen Huhns. Die Tragik dieser Situation traf sie und die anderen mit voller Wucht. Keiner von ihnen hatte sich vorgestellt, dass die Rückkehr nach Edefia sich so schwierig gestalten würde. Seit siebenundfünfzig Jahren warteten sie nun schon. Doch noch nie waren die Gefahren so zahlreich gewesen – und das ausgerechnet jetzt, wo sie alle Schlüssel in der Hand hielten: das Mal um Oksas Nabel, das Medaillon, das Dragomira von ihrer Mutter Malorane geerbt hatte, den Wegweiser nach Edefia, gut gehütet im Kopf des Plemplems. Sogar Pavel, der einer Rückkehr in ihre verlorene Welt von allen am meisten Widerstand entgegenbrachte, war fassungslos. Seine vor Kurzem gewonnene Entschlossenheit, sich an diesem unglaublichen Abenteuer zu beteiligen, verlor von Minute zu Minute an Kraft. Wozu all diese Risiken eingehen? War es das wirklich wert? Das Leben im Da-Draußen war schließlich alles andere als unerträglich …
»Du hast gesagt, dass das Böse das Herz einer Huldvollen begehrt«, wandte sich Abakum an die Sensibylle. »Kannst du uns mehr darüber sagen?«
»Das Herz, das begehrt wird, ist das der Jungen Huldvollen«, verkündete die Sensibylle.
»Keine Sorge!«, rief Oksa und sprang von ihrem Platz auf. »Ich bin bereit.«
»Oksa, bitte«, fuhr ihr Vater sie an und warf ihr einen flammenden Blick zu. »Es kommt überhaupt nicht infrage, dass du dich in dieses Gemälde begibst.«
»Aber, Papa …«, hob sie an.
»Da gibt’s überhaupt kein Aber«, erwiderte Pavel scharf. »Du wirst dieses Gemälde nicht betreten – Ende der Diskussion.«
»Aber du vergisst, dass Gus da drin gefangen ist!«, entgegnete Oksa erregt. »Wenn wir nicht nach ihm suchen, hat er überhaupt keine Chance, je wieder da herauszukommen. Wie kannst du bloß so … so unmenschlich sein?«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging wutschnaubend aus dem Zimmer. Eine Totenstille senkte sich über den Raum. Einige der Rette-sich-wer-kann blickten verstohlen zu Pavel hinüber, andere zeigten ihr Missfallen deutlich und schauten ihn vorwurfsvoll an. Dragomira, die über die Reaktion ihres Sohnes zutiefst erschrocken war, legte ihm eine Hand auf den Arm, in der Hoffnung, ihn zur Vernunft zu bringen. Doch Pavel schüttelte sie ab und schlug die Augen nieder. Das Dilemma, in dem sie sich befanden, war fürchterlich, und er fühlte einen Druck auf seinem Herzen. Er spürte die Qual seiner Freunde, Pierre und Jeanne, deren einziger Sohn in der Falle saß. Wie grauenhaft, dies zu wissen, und dann nichts zu
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