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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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tun, um ihm zu helfen. Aber wer sich in dieses Gemälde hineinbegab, lief Gefahr, nie wieder herauszukommen! Pavel hob den Kopf, vermied jedoch den Blickkontakt mit Pierre und Jeanne, die ihn voller Entsetzen ansahen. Sein Blick fiel auf den Computerbildschirm: Er zeigte immer noch das letzte Foto, das Gus vor seiner Eingemäldung aufgenommen hatte – das Bild von Remineszens, Zoés Großmutter. Dahinter war durchs Fenster der Sommerhimmel zu sehen, an dem dunkelviolette Wolken schwebten. Pavel ließ den Kopf in die Hände sinken und überließ sich völlig seinem Kummer.
    Ein Stockwerk über ihm kauerte Oksa in einer Ecke ihres Zimmers auf dem Boden. Die Wut hatte vollkommen von ihr Besitz ergriffen, sie konnte nichts dagegen ausrichten. Das Ringelpupo pulsierte ohne Unterlass an ihrem Handgelenk, um sie zu beruhigen. Doch die Junge Huldvolle war nicht empfänglich für seine Bemühungen. Mit einer ungestümen Geste fuhr sie sich durch das kastanienbraune Haar und seufzte. Draußen grollte ein Gewitter, das mit großer Geschwindigkeit näher zu kommen schien. Oksa schoss erschrocken vom Boden hoch, als sich ein Blitz, begleitet von einem schauderhaften Donnerkrachen, direkt über dem Bigtoe Square entlud. Windböen fegten mit enormer Gewalt über den Platz, und die Passanten schrien angstvoll auf. Plötzlich erhellte ein greller Blitz den ganzen Himmel, traf das Fenster in Oksas Zimmer und ließ es in Tausende von Glassplittern zerspringen.
    »So was …«, murmelte Oksa fasziniert.
    Es war nicht das erste Mal, dass sie ein solches Gewitter entfachte. Aber dieses hier hatte es in sich! Der Wind, ein Abbild ihrer Wut, fegte alles weg, was ihm in die Quere kam: Die Mülltonnen kippten um und rollten dröhnend über die Straße, Dachziegel fielen von den Häusern und gingen mit einem dumpfen Krachen auf dem Gehsteig zu Bruch. Die Fernsehantennen auf den Hausdächern wurden von den heftigen Windböen aus ihrer Verankerung gerissen oder umgebogen. Oksa stand an dem zersplitterten Fenster und betrachtete ungläubig das apokalyptische Spektakel. Da änderte der Wind auf einmal abrupt seine Richtung. Anstatt über den Bigtoe Square zu wirbeln, richtete er sich plötzlich mit seiner ganzen zornigen Kraft auf das verdutzte Mädchen. Ein unbeschreibliches, eisiges Gefühl ließ den Zorn in ihrem Innern auflodern. Sie sah die pechschwarzen Wolken auf sich zukommen, wie ein finsterer Schleier legten sie sich über ihre Augen. In ihrer Brust lieferten sich Wind und Feuer einen wütenden Kampf, an dem sie fast erstickte. Oksa war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Mit letzter Kraft klammerte sie sich an den mit Glasscherben übersäten Fenstersims – dass sie sich dabei die Hände aufschnitt, nahm sie gar nicht wahr –, dann stürzte sie bewusstlos zu Boden.
    Als Oksa wieder zu sich kam, sah sie Tugduals Gesicht über sich. Der junge Mann schaute sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Bewunderung an.
    »Ich glaube, man sollte sich davor hüten, dich in Wut zu versetzen«, murmelte er mit dem Hauch eines Lächelns.
    Oksa verzog das Gesicht. Sie fühlte sich wie gerädert, als ob sie stundenlang Hanteltraining gemacht hätte. Sie warf einen Blick zum Fenster: Der Himmel war klar und blau, die Sonne lachte, alles schien … normal.
    »Ich dachte schon, das wäre der Weltuntergang!«, sagte sie und setzte sich auf.
    »Viel gefehlt hat jedenfalls nicht«, antwortete Tugdual schmunzelnd. »Das ganze Viertel ist verwüstet.«
    »Schsch!«, wies ihn sein Großvater Naftali zurecht.
    Die Rette-sich-wer-kann standen rund um das Sofa, auf dem Oksa lag. Pavel trat zu seiner Tochter und legte ihr die Hand auf die Schulter.
    »Oh, Papa!«, rief Oksa und schlang die Arme um seinen Hals. »Es tut mir so leid. Es ist total idiotisch von mir, mich so aufzuregen und so wütend zu werden. Aber … was ist mit meinen Händen?«
    Sie schaute erstaunt auf ihre bandagierten Hände.
    »Du hast dich an den Glasscherben geschnitten«, erwiderte ihr Vater mit matter Stimme. »Aber keine Sorge, Dragomira hat bereits alles getan, was nötig war. In ein paar Stunden sind die Schnittwunden nur noch eine böse Erinnerung.«
    »Danke, Baba! Äh, hast du die Filigrinnen verwendet?«, fragte Oksa und schauderte beim Gedanken an die zarten kleinen Spinnen mit den außergewöhnlichen Nähkünsten.
    »Ganz genau, meine Duschka«, bestätigte Dragomira.
    »Dann war ich wohl ziemlich lange bewusstlos?«
    »Genau viereinhalb Stunden«, verkündete ihr Vater mit

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