Oksa Pollock. Die Entschwundenen
gealtert. Abakum stand mit undurchdringlicher Miene neben den beiden und blickte starr zu Boden. Gus und Pierre schienen regelrecht unter Schock zu stehen, sie drängten sich eng aneinander. Ihnen gegenüber stand Tugdual, der Oksa nicht aus den Augen ließ. Sein Blick war so seltsam, dass sie sich fragte, ob er den Ernst der Lage überhaupt begriffen hatte. Pavel schließlich hielt sich etwas abseits der Gruppe und beobachtete sie ebenfalls. Von seinem Rücken stiegen weiße Rauchwölkchen auf. Um im Schutz des großen Felsens zu bleiben, robbte sie auf allen vieren zu ihm.
»Geht’s, Papa?«
»Na ja, es ging schon mal besser. Ehrlich gesagt ist mir mein sonst so ausgeprägter Hang zum Optimismus in letzter Zeit ein wenig abhandengekommen.«
Oksa musste trotz allem schmunzeln, als ihr Vater seine angebliche Zuversicht erwähnte, die schlicht das Gegenteil seines Charakters war. Pavel war noch nie locker oder optimistisch gewesen. Ganz und gar nicht.
»Das tut mir leid für dich!«, sagte Oksa und legte ihm die Hand auf den Arm. »Aber ich bin mir sicher, dass wir es schaffen werden.«
Ihr Vater schwieg vielsagend.
»Natürlich schaffen wir es. Was denn sonst?«, rief Oksa laut, als müsste sie sich selbst überzeugen. »Und da wir weder etwas zu trinken noch etwas zu essen haben, schlage ich vor, dass wir uns nicht länger hier aufhalten. Lasst uns aufbrechen!«
»Lieber handeln als untätig auf den Tod warten, ist das deine Devise, Kleine Huldvolle?«, fragte Tugdual mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. Dabei sah er sie eindringlich an.
»Mach dich nur lustig, wenn es dir Spaß macht!«, antwortete sie in provozierendem Ton. »Was schlägst du denn vor? Dass wir hier herumsitzen, bis wir zu Staub zerfallen?«
Abakum blickte auf. »Du hast recht«, stimmte er Oksa zu.
»Aber wo sollen wir denn hin?«, fragte Leomido. »Wir haben doch keinerlei Anhaltspunkte!«
Alle sahen auf die Ebene hinaus, die sich rund um sie in alle Richtungen erstreckte, so weit das Auge reichte. Der Wind war abgeflaut, sodass es nicht mehr so furchtbar staubte. Doch die Landschaft, die sich ihren Blicken bot, war alles andere als einladend: Die Erde war knochentrocken und rissig, und beim geringsten Windstoß würde der ganze Staub wieder aufgewirbelt werden. Eine endlose Wüste. Eine unermessliche, karge Einöde. Oksa knirschte mit den Zähnen. Doch plötzlich beugte sie die Knie, als wollte sie vertikalieren, und schien sich ganz fest zu konzentrieren. Dann nahm ihr Gesicht einen enttäuschten Ausdruck an.
»Verdammt, ich schaffe es nicht!«, schimpfte sie.
»Der Vertikalflug ist unmöglich, wenn die Schwerkraft in Unordnung geraten ist, Junge Huldvolle«, teilte ihr das Wackelkrakeel mit.
»Die Schwerkraft? In Unordnung geraten?«, wiederholte Oksa ungläubig.
»Genau«, bestätigte das Krakeel. »Das ist Euch vielleicht nicht klar, aber die physikalischen Gesetze, die im Da-Draußen gelten, sind ganz und gar nicht dieselben wie hier. Die vertikalierenden Rette-sich-wer-kann können es ausprobieren, dann werden sie es sehen.«
Bei diesen Worten stellte sich Leomido kerzengerade hin und legte die Arme eng an den Körper. Seine Freunde sahen ihm die Anstrengung an – und auch die darauffolgende Enttäuschung. Leomido konnte genauso wenig vertikalieren wie Oksa. Pavel, Pierre und Tugdual versuchten es nun ihrerseits, alle ohne Erfolg.
Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung sah sich Oksa um und fragte: »Wo ist bloß der Schmetterling?«
Alle suchten den marmorierten Himmel ab, um das kleine Insekt zu finden. Bedrohliche schwarze Wolken zogen mit rasender Geschwindigkeit über den Himmel und erschwerten ihnen die Suche.
»Er muss weggeweht worden sein«, sagte Gus.
»Aber wir brauchen ihn!«, rief Oksa.
»Er wird uns garantiert finden«, beruhigte Tugdual sie. »Er kann uns gar nicht verfehlen: In dieser Einöde sind wir kilometerweit sichtbar!«
»Hier gibt es keine Kilometer«, verbesserte ihn das Wackelkrakeel, das den Kopf aus Oksas Tasche streckte. »Diese Wüste hat keine Grenzen, wir sind mitten im Nichts.«
»Wenn sonst noch jemand etwas Tröstliches zu sagen hat, nur zu!«, murmelte Oksa mit erstickter Stimme.
»Oh, entschuldigt bitte, Junge Huldvolle, verzeiht meinen Einwand!«, winselte das Krakeel. »Wenn ich sage, dass die Wüste keine Grenzen hat, meine ich damit, dass ihre Grenzen andere sind als die, an die wir spontan denken.«
»Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?«, schrie Oksa
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