Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
können.«
»Natürlich! Um das zu wissen, braucht man nicht mal so schlau zu sein wie du. Ich wollte nur sagen, dass …«
»Es macht einen ja auch wirklich rasend«, unterbrach Gus sie.
Im Dunkeln konnte er Oksas bösen Blick nicht sehen, aber es fiel ihm nicht schwer, ihn zu erahnen. Allmählich hatte er sich daran gewöhnt, dass die beiden Mädchen sich in den Haaren lagen, kaum dass sie im selben Zimmer waren. Zoé und Mortimer schienen sich um jeden Preis aus den Streitigkeiten heraushalten zu wollen, und so musste Gus es allein mit zwei so unterschiedlichen Temperamenten aufnehmen. Da er weder für die eine noch für die andere Partei ergreifen wollte, versuchte er einfach, Frieden zu stiften – und kam sich manchmal vor wie ein Schiedsrichter im Boxring.
»Alles in Ordnung, ihr fabelhaften Fünf?«
»Ja, danke, Pavel. Wir warten darauf, dass der Strom wiederkommt«, antwortete Zoé.
»Mit der Phosphorille auf der Schulter siehst du aus wie ein Gespenst!«, machte Oksa sich über ihn lustig.
»Da kommt man vorbei, um freundlich seine Hilfe anzubieten, und wird zum Dank vom eigenen Kind mit Hohn und Spott überschüttet!«
Oksa lachte.
Mortimer wandte sich ab und starrte trotz der Dunkelheit auf einen feuchten Fleck an der Wand. Die Beziehung zwischen Oksa und ihrem Vater versetzte ihn immer wieder in Erstaunen. Selbst wenn nicht alles zum Besten stand, wie zum Beispiel jetzt, fanden sie Mittel und Wege, sich gegenseitig für einen kurzen Moment zum Lachen zu bringen. Mortimer beneidete die beiden um diese Leichtigkeit.
Er konnte es nicht lassen, Pavel mit seinem eigenen Vater zu vergleichen. Orthon war unerbittlich, und seine Strenge hatte jede entspannte Atmosphäre in der Familie zunichtegemacht. Aber auf seine Weise war auch er liebevoll gewesen. Jedenfalls, bis er Oksa aufgespürt hatte. Denn dieses Ereignis hatte ihr ganzes Leben umgekrempelt und die Familie schließlich zerrüttet. Orthons Gedanken waren nur noch um die Unverhoffte gekreist, und sie hatte ihm als Vorwand für die schlimmsten Verbrechen gedient.
Mortimer hatte begriffen, dass sein Vater völlig skrupellos war und nicht einmal vor Mord zurückschreckte. Doch abgesehen davon, hatte ihm noch ein anderes Erlebnis nachhaltig die Augen geöffnet. Als Remineszens ihn auf der Hebriden-Insel in ihre Gewalt gebracht hatte, um seinen Vater zu erpressen, hatte dieser eiskalt das Leben seines eigenen Kindes aufs Spiel gesetzt.
An diesem Tag war etwas in Mortimer zerbrochen.
Später hatte Orthon Tugdual auf seine Seite gezogen, und Mortimer war nicht mehr so wichtig für ihn gewesen. Der »neue« Sohn hatte ein solches Potenzial … Mortimer hatte zunächst darunter gelitten, es jedoch mehr seinem Vater übel genommen als dem, der sich plötzlich als sein Halbbruder entpuppte.
Tugdual war selbst nur ein Opfer. Noch eines.
Das konnte Mortimer nicht länger ertragen.
Und er hatte seine Entscheidung getroffen.
Vorbereitungen
Irgendwo vor Grönland
L eise glitt das U-Boot an der Wasseroberfläche dahin, zerteilte die Wellen und zog eine Spur schäumenden Kielwassers hinter sich her. Im milchigen Mondlicht, durch das die ersten Schneeflocken rieselten, sah es aus wie eine riesige, glänzende Nacktschnecke.
Ein Mann erschien auf der kleinen Kommandobrücke. Einige Sekunden lang beobachtete er das endlose Meer, warf sich dann in die Brust, legte den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. Sein Lachen hallte durch die Nacht und verlor sich über dem aufgewühlten Wasser. Der Mann fasste sich wieder, nahm eine riesige Taschenlampe aus seiner Umhängetasche und gab Lichtsignale. Auf einer Ölplattform in einigen Kilometern Entfernung richtete sich plötzlich der Lichtkegel eines Scheinwerfers in den Himmel – wie ein Tunnel zwischen Erde und Weltraum. Das U-Boot korrigierte den Kurs und schoss direkt auf die Plattform zu. Dort beugten sich mehrere Menschen über die Reling. Trotz des eisigen Windes und des immer dichter werdenden Schneegestöbers warteten sie, bis das U-Boot sich einer schmalen Brücke zwischen zwei Pfeilern genähert hatte. Als es nahe genug war, setzten sich alle in Bewegung und befestigten die Taue, die vom U-Boot aus hinübergeworfen wurden. Dann stiegen die Passagiere – zwei Dutzend Männer und Frauen unterschiedlichen Alters – aus. Der Schneesturm überraschte sie, sie vergruben die Köpfe in ihren dicken Parkas und liefen eilig die Wendeltreppe zwischen den Eisenträgern hinauf. Ein paar von
Weitere Kostenlose Bücher