Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
sie gerade den Kopf aus dem Wasser streckte, um Luft zu holen. »Du bist … unglaublich!«
Es dauerte nicht lange, und sie hatten die gewaltige Stahlkonstruktion erreicht. Die paar Meter bis zum oberen Rand eines der Stützpfeiler legte Oksa vertikalierend zurück. Gus war dort soeben behutsam von den Froschlingen abgesetzt worden. Die beiden hockten sich einen Augenblick hin, um zu verschnaufen. Unter ihnen donnerte das Meer mit voller Wucht gegen die Stahlträger, diese Fremdkörper inmitten der rauen Natur. Als die beiden Freunde den Kopf hoben, ging ihr Blick durch das Geflecht der Träger und Querstreben hinauf bis hoch zur Plattform der Bohrinsel.
»Alles okay?«, fragte Oksa. »Hast du unseren Plan noch im Kopf?«
Gus nickte.
»Na gut. Dann also los.«
Oksa erhob sich, doch plötzlich packte Gus sie am Arm und hielt sie zurück.
»Was ist?«, fragte sie beunruhigt.
Statt einer Antwort küsste Gus sie auf die kalten Lippen.
Jetzt konnte es losgehen.
Eine diskrete Erstürmung
U m aus dem Stahlgeflecht der Stützpfeiler herauszukommen, musste man eine endlos lange, schmale Leiter bis zum eigentlichen Sockel der Plattform hinaufklettern. Durch die Feuchtigkeit waren die Streben glitschig, und die beiden mussten sehr vorsichtig sein. Auf der eigentlichen Plattform angelangt, schlichen sie, immer dicht an den Stahlwänden und -pfeilern entlang, zu einer kleinen rostigen Tür. Der Wind pfiff so heftig hier oben, als wollte er die Bohrinsel in ihre Bestandteile zerlegen und wegfegen wie einen Turm aus Bauklötzen.
Laut Auskunft des Wackelkrakeels gab es keine Überwachungskameras, und Oksa und Gus hatten kühn darauf gesetzt, dass Orthon auch auf andere menschliche oder elektronische Überwachungsmaßnahmen verzichtet hatte.
»Welcher vernünftige Mensch käme schon auf die Idee, ein Genie seiner Größenordnung auf einer ausrangierten Ölbohrinsel zu suchen?«, hatte Oksa am Nachmittag ironisch bemerkt.
»Ja, aber vergiss nicht, dass er auch total paranoid ist«, hatte Gus zu bedenken gegeben.
Nachdem Oksa das Türschloss mit der Zeigefinger-Nummer geöffnet hatte, schlichen die beiden auf Zehenspitzen ins Innere. Dort warteten sie ein paar Sekunden. Kein Alarm ging los, kein Wachposten mit Waffe im Anschlag tauchte auf, kein Chiropterschwarm oder sonstige widerwärtige Geschöpfe stürzten sich auf sie. So wagten sie sich weiter vor, bis zu einer nach oben führenden Treppe.
Ein Nachtlicht hüllte den Gang, in dem sie sich befanden, in ein unangenehmes grünliches Licht. Hin und wieder gingen gepanzerte Türen ab – zu den berüchtigten, vom Wackelkrakeel beschriebenen Waffenarsenalen. Oksa schauderte beim Gedanken an die Raketen und Torpedos, sie stellte sich vor, wie sie irgendwo auf der Welt explodierten und furchtbare Verwüstung anrichteten. »Du bist hier, damit das nicht passiert«, sagte sie sich, um sich zu beruhigen. Und um sich trotz der unvorstellbaren Verantwortung, die auf ihr lastete, zu motivieren.
Gus gab ihr ein Zeichen, dass sie jetzt in den zweiten Stock weitergehen sollten. Geräusche drangen zu ihnen herab, das Klappern von Geschirr und undeutliche Stimmen. Oksa spitzte die Ohren und setzte ihr Flüsterlausch ein.
»Geh ins Bett, James, du siehst müde aus.«
»Macht es dir wirklich nichts aus, den Rest alleine zu übernehmen?«
»Überhaupt nicht. Wir sind ja sowieso fast fertig.«
»Na gut, dann bis morgen.«
»Bis morgen.«
Schritte erklangen auf dem Treppenabsatz im nächsthöheren Stock und entfernten sich. Auf den gemurmelten Befehl Oksas hin unternahm das Wackelkrakeel einen kurzen Erkundungsflug.
»In der Küche befindet sich ein Mann«, flüsterte es gleich darauf den beiden Spionen ins Ohr. »Er ist achtundzwanzig Jahre alt und im Moment die einzige wache Person auf diesem Stockwerk. Acht Männer und vier Frauen schlafen in den insgesamt zehn Zimmern auf dieser Ebene, ganz am südwestlichen und südöstlichen Ende dieses Gangs.«
»Perfekt!«, flüsterte Oksa. »Los, weiter.«
Sie ging voran und hielt dabei unwillkürlich die Luft an, obwohl ihr klar war, dass das nichts half. Als plötzlich eine Treppenstufe ächzte, blieb Oksa wie angewurzelt stehen. Ihr summten die Ohren vor Angst, dass Orthons Armee womöglich wegen einer elenden schlecht verschraubten Stufe über sie herfallen würde.
»Also, ein bisschen mehr als das musst du schon verkraften, wenn du mit deiner Mission Erfolg haben willst«, ermahnte sie sich innerlich.
Mit klopfendem Herzen ging
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