Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
Boden. Aber auch einige Möbel und Gegenstände waren umgestürzt oder heruntergefallen, Sessel, Aktenordner, die Computermaus. Oksa blickte sich hastig im Raum um und öffnete dann schnell die Tür. Die zwei Schlösser hatten einen klassischen Mechanismus mit Schlüssel – beziehungsweise einer blauen Nacktschnecke – von außen und einem simplen Drehknauf von innen.
»Gus?«, rief Oksa und steckte den Kopf durch den Türspalt. »Alles klar, du kannst reinkommen!«
Das ließ Gus sich nicht zweimal sagen, denn das Stroboskoplicht setzte ihm immer stärker zu. Das Wackelkrakeel huschte gleich hinter ihm herein.
»Was hast du bloß angestellt?«, fragte er, nachdem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten.
»Ich habe mein Möglichstes getan, um unserem Empfangskomitee den Spaß zu verderben«, antwortete Oksa und deutete auf die am Boden liegenden Chiropter.
»Verstehe …«
»Also, wo fangen wir an?«
»Beim Computer?«
»Wenn Ihr mir gestattet, Euch einen Rat zu geben, meine Huldvolle und werter Freund der Huldvollen«, meldete sich das Wackelkrakeel zu Wort, »solltet Ihr damit anfangen, das Büro wieder in Ordnung zu bringen, denn ich muss Euch mitteilen, dass sich der Treubrüchige Orthon nähert. Geschätzte Ankunft in diesem Raum in drei Minuten vierunddreißig Sekunden … drei Minuten dreiunddreißig … drei Minuten zweiunddreißig …«
Entsetzt und ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, machten sich Gus und Oksa daran, alles wieder an Ort und Stelle zu legen. Der Impuls, zu fliehen, war fast übermächtig. Doch ohne ein Wort zu wechseln, ja fast ohne sich mit einem Blick zu verständigen, waren sie beide zu demselben Schluss gekommen: dass sie in diesem Raum bleiben mussten. Denn nur hier bot sich ihnen die Chance, etwas Interessantes zu erfahren.
»Etwas Besseres hätte uns gar nicht passieren können«, sagte Oksa mit zittriger Stimme.
»Stimmt«, pflichtete Gus ihr bei. »Wir sind doch nicht hierhergekommen, um bei der ersten Schwierigkeit das Weite zu suchen.«
»Zwei Minuten dreiundvierzig«, zählte das Wackelkrakeel. »Zwei Minuten einundvierzig …«
Die fünf Chiropter kamen allmählich wieder zu sich. Schwerfällig bewegten sie die Flügel und erzeugten dabei ein Geräusch, als ob jemand mit Stiefeln im Schlamm patschte. Trotz ihres Ekels setzte Oksa zwei der Geschöpfe auf den Schreibtisch und die drei anderen auf ein Regal, das sich unter lauter Aktenordnern bog. Zu gern hätte sie da mal einen Blick hineingeworfen!
»Oksa, ich verstecke mich hier drin«, sagte Gus und zeigte auf einen Schrank mit Schiebetüren.
Er kauerte sich hinter eine Reihe von Kartons, die Oksa so zurechtrückte, dass sie ihn einigermaßen verdeckten. Dann wechselten die beiden noch einen letzten Blick, und Oksa schob die Tür bis auf einen winzigen Spalt zu.
»Keine Sorge, wenn es schiefgeht, habe ich alles dabei, was wir brauchen«, sagte sie und klopfte auf ihre Umhängetasche.
»Hoffentlich kommt es nicht so weit.«
»Ich habe auch eine Crucimaphilla dabei, weißt du.«
»Zugegeben, es hat was Verlockendes, mit Orthon ein für alle Mal Schluss zu machen«, tönte Gus’ Stimme aus dem Schrank. »Aber tu das nicht, Oksa. Vergiss nicht, wir sind hier auf feindlichem Territorium, die hätten uns im Nu erledigt.«
»Neununddreißig Sekunden … achtunddreißig Sekunden …«, zählte das Wackelkrakeel.
»Komm her, mein Krakeel!«, befahl Oksa dem Geschöpf, während sie ihre Phosphorille wieder ins Granuk-Spuck zurückrief.
Mit Granuk-Kraft
Ergieß deinen Saft!
Befreie die Invisibellen,
Um meine Sichtbarkeit zu verstellen.
Kaum hatte sie sich von Kopf bis Fuß in die zappelnden kleinen Kaulquappen gehüllt, da hörte sie auch schon Gesprächsfetzen vom Gang her. Sie erkannte Orthons Stimme.
Doch er war nicht allein.
Instinktiv drückte sie sich in eine Ecke und nahm eine Haltung ein, die ihr Trost und Sicherheit schenkte: mit angezogenen Beinen und dem Kinn auf den Knien. Sie warf einen kurzen Blick auf den Schrank, wo Gus sich verbarg, und war sich fast sicher, dass ihnen beiden gleich vor Anspannung das Herz zerspringen müsse.
Dann klackten die Schlösser, die Tür flog weit auf, und Stroboskoplicht drang herein, in dem sich vier Silhouetten abzeichneten. Die Tür ging wieder zu und die Deckenlampe an.
Orthon blickte sich im Raum um. Sein Blick blieb an den Chiroptern hängen. Oksa hielt den Atem an. Zumal ihr jetzt auch noch auffiel, dass die Computermaus umgedreht am Boden
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