Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
geben.
Vier mächtige Säulen stützten die Decke des Saals, in dessen Mitte ein Sofa stand. Es war das größte Sofa, das Oksa je gesehen hatte, wahrscheinlich konnten fast vierzig Personen darauf Platz nehmen! Sie suchte nach dem großen Metallschrank … Er war nicht mehr da. Heillose Panik ergriff sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Es konnte doch nicht alles umsonst gewesen sein! Sie schritt den ganzen Saal ab, obwohl sie bereits wusste, dass sie nichts finden würde. Der Schrank war bestimmt woandershin gebracht worden. Aber wohin? Das weitverzweigte Höhlensystem bot unendlich viele Möglichkeiten …
Plötzlich wurde in dem Mosaik eine bisher unsichtbare Tür aufgestoßen – und ungefähr zehn Personen betraten den Saal.
»Der Meister bin immer noch ich!«, donnerte Ocious. »Du hast das nicht zu entscheiden, nicht heute und nicht morgen.«
Orthon schaute seinen Vater zornig an. Mit wenigen Schritten war er in der Mitte des Saals. Seine Söhne, Gregor und Mortimer, hielten sich hinter ihm. Ocious ließ sich – gefolgt von Andreas – mit demonstrativer Gelassenheit auf dem Sofa nieder, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Dann richtete er den Blick herausfordernd auf den Sohn, den er von jeher verachtete.
Säurebomben
U
nwillkürlich zog Oksa den Plemplem hinter eine der Säulen. Natürlich vertraute sie dem Schutz der Invisibellen, aber so plötzlich ihren größten Feinden gegenüberzustehen, löste dennoch Panik bei ihr aus. Zwei Treubrüchige streiften sie, ohne es zu bemerken, eine Frau mit üppigem braunem Haar und einem gebieterischen Gesichtsausdruck und ein Mann, den Oksa sofort wiedererkannte: Agafon, der alte Memothekar. Sie presste sich an die kalte Steinsäule. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch ihre Entschlossenheit wankte kein bisschen. Es ging um Gus’ Leben!
»Meine Huldvolle muss die Information erhalten, dass ihre Dienerschaft das Experiment mit einer schreckensgeladenen Situation erfährt«, murmelte der Plemplem mit zitternder Stimme. »Der Haus- und Hofmeister unterbreitet das Angebot eines sofortigen Entwischens.«
Oksa streichelte ihm den flaumigen Kopf.
»Nicht jetzt«, flüsterte sie. »Wir werden bestimmt eine Menge erfahren …«
Sie stützte sich an der Säule ab und lugte vorsichtig daran vorbei, um das Geschehen genau zu beobachten.
Ocious trug nach wie vor seine überlegene Haltung zur Schau. Hocherhobenen Hauptes sah er seinen Sohn an. Er strahlte den Stolz und die Macht eines alten Löwen aus, obgleich die vergangenen Wochen durchaus Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatten. Orthon gab sich so wie immer: unbeeindruckt von der Geringschätzung seines Vaters, überheblich und eiskalt.
»Vater hat recht«, ergriff jetzt Andreas das Wort.
Diese einschmeichelnde, gefährliche Stimme erkannte Oksa sofort wieder. Trotz ihrer Feindschaft waren die beiden Söhne von Ocious gar nicht so verschieden: dieselbe Distinguiertheit, dieselbe hagere Statur, dieselbe absolute Kaltblütigkeit. Wie sie sich jetzt so gegenüberstanden und gegenseitig taxierten, sah Oksa mehr denn je in Orthon die messerscharfe Präzision des Adlers und in Andreas die Heimtücke einer Schlange.
»Nein, Vater hat nicht immer recht!«, widersprach Orthon und warf seinem verhassten Halbbruder einen verärgerten Blick zu. »Es wäre gegen jede Vernunft, Die-Goldene-Mitte jetzt anzugreifen.«
»Ach, verschon uns doch damit!«, fuhr ihm Ocious über den Mund. »Du bist unter allen hier der Letzte, der es sich erlauben dürfte, kriegstaktische Ratschläge zu erteilen!«
Sekundenlang blieb es mucksmäuschenstill im Saal. Agafon und die Frau mit den strengen Gesichtszügen standen ein Stück weit entfernt und starrten vor sich hin. An der Wand gegenüber lehnte Lukas, der berühmte Mineraloge, und neben ihm beobachteten zwei vollkommen identisch aussehende Frauen, offenbar Zwillinge, die Szene. Sie trugen ihre grauen Haare zu einem helmartigen Schopf frisiert, und ihre Gesichter zierte eine lange, schmale Nase. Eben schnalzten beide mit der Zunge. Wem galt wohl ihre Missbilligung? Schwer zu sagen …
Orthon hielt sich kerzengerade und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Neben ihm stand sein Sohn Gregor mit durchgedrückten Knien. Aus seiner Haltung sprach unmissverständlich die volle Solidarität mit seinem Vater. Obwohl er nicht sehr groß war, ging eine Aura der Grausamkeit von ihm aus. Mortimer dagegen wirkte nicht annähernd so Furcht
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