Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
Meister.«
Obwohl sie immer noch von Invisibellen bedeckt war, machte sich Oksa instinktiv noch kleiner. Diese grüne Enklave war phantastisch – wie aus einem Traum oder dem Geist eines ebenso erfinderischen wie größenwahnsinnigen Botanikers entsprungen. Zwischen den Bäumen, deren Wipfel teilweise bis über die Wolken ragten, entdeckte sie ein ungeheures Gewirr von Brücken und Stegen, die die regelrecht mit den Ästen verwachsenen Behausungen miteinander verbanden. Die Nacht senkte sich über die Waldstadt und Hunderte kleiner Lichter schimmerten aus dem Inneren der Häuser durch die Zweige; gleichzeitig ging auf der Höhe jedes Stegs eine bewegliche Beleuchtung an. Abgesehen von den Soldaten konnte Oksa kein Lebenszeichen entdecken. Dabei spürte sie eindeutig Aktivität im Herzen des tiefen Waldes.
Das Wackelkrakeel setzte sich auf ihre Schulter. »Ich habe einige praktische Auskünfte für meine Junge Huldvolle«, verkündete es.
»Ich höre«, sagte Oksa gespannt.
»Laubkroning bildet einen Kreis mit einem Durchmesser von sechs Kilometern. Unter der Erde befindet sich immer noch Grundwasser, und so konnte die Stadt bis heute bestehen bleiben. Derzeit leben dreihundertachtundvierzig Menschen und fünfhundertzwölf Geschöpfe dort. Die zweihundertzwanzig Soldaten von Ocious, die dreiundzwanzig Hochköpfe und Handkräftigen, die vier Rette-sich-wer-kann und die elf Geschöpfe aus der Gläsernen Säule nicht mitgerechnet.«
Oksa sperrte die Augen auf.
»Vier Rette-sich-wer-kann? Bist du sicher?«
»Ganz und gar, meine Junge Huldvolle«, bestätigte der kleine Kundschafter.
Das verwirrte Oksa sehr.
»Aber du hast doch gesagt, dass mein Vater, Abakum und Zoé als Einzige aus der Gläsernen Säule entkommen konnten. Wer ist also der Vierte?«
»Es tut mir sehr leid, aber ich kann Euch diese Frage nicht beantworten«, stammelte das Krakeel.
»Meine Junge Huldvolle muss eine Information entgegennehmen, die ihr Herz mit Glückseligkeit spicken wird«, warf der Plemplem nun ein.
Oksa sah ihn hoffnungsvoll an.
»Der heiß geliebte Feenmann erfährt den Prozess einer geografischen Annäherung.«
Sofort spähte Oksa angestrengt in die Dunkelheit, doch außer den vielen flirrenden Lichtern in den Bäumen und den Phosphorillen auf den Helmen der Soldaten konnte sie nichts entdecken. Rein gar nichts.
»Abakum!«, rief sie leise, auch wenn das völlig sinnlos war, da er sie ja gar nicht hören konnte.
Oksa starrte weiter in die pechschwarze Nacht. Trotz der kühlen Luft lief ihr der Schweiß über die Schläfen. Und wenn Abakum sie nicht bemerkte? Am liebsten hätte sie sich ihrer Tarnung aus Invisibellen entledigt, doch sie hatte zu große Angst, entdeckt zu werden. Solange sie unsichtbar blieb, drohte ihr wenigstens keine Gefahr.
»Hat meine Junge Huldvolle den Willen, ihren Blick in die Richtung zu lenken, den ihre Dienerschaft ihr zeigt?«, fragte plötzlich der Plemplem.
»Ganz, wie du meinst«, flüsterte Oksa.
Da zeigte das Geschöpf mit seinen Patschhänden in die Richtung von … nichts. Dennoch begriff Oksa nach wenigen Sekunden, dass der Eindruck, da sei nichts, trügerisch war. Tatsächlich musste man über sehr scharfe Sinne verfügen, um in der undurchdringlichen Nacht einen Schatten zu erkennen, der über die Dünen huschte. Der Feenmann. Der Schattenmann. Kaum wahrnehmbar glitt die hellgraue Silhouette geschmeidig und lautlos wie eine Schlange über den Sand.
»Abakum! Hier bin ich!«, konnte Oksa sich nicht verkneifen zu rufen.
»Ich weiß, meine Kleine, ich weiß!«, hörte sie eine Stimme, die sie unter Tausenden erkannt hätte.
»Aber du solltest mich doch eigentlich gar nicht hören können?«, fragte sie beunruhigt.
»Hast du etwa vergessen, dass ein Teil von mir tierischen Ursprungs ist?«, erwiderte Abakum.
Der Schatten kam noch näher und streifte Oksa wie ein Lufthauch.
»Ich bin ja so froh, dass du da bist, Abakum. So froh!«
Der Schatten bebte leicht.
»Und jetzt komm und befolge ganz genau meine Anweisungen, damit wir alsbald alle wieder vereint sind.«
Um in das Zentrum von Laubkroning zu kommen, vollführten sie eine Art Slalom: erst an den Zelten von Ocious’ Truppen vorbei, dann durch das Heer von Soldaten und Hellhörigen, die misstrauisch und vor allen Dingen sehr schnell waren. Erschwert wurde das Ganze dadurch, dass die Invisibellen sich offenbar genauso vor den fliegenden Raupen fürchteten wie die Junge Huldvolle. Jedes Mal, wenn eines der widerwärtigen
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