Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
schöpfen. Bei ihr waren die befreiten Rette-sich-wer-kann und die Geschöpfe, die in letzter Minute aus den einstürzenden Räumen unter dem Königlichen Baum gerettet worden waren.
»Meine Junge Huldvolle stellt eine mit Tiefe gespickte Besorgnis zur Schau«, flüsterte der Plemplem besorgt. »Ihrem Geist widerfährt die Färbung einer tiefen Schwärze.«
»Erschöpft, verdreckt und vollkommen verloren. So fühle ich mich«, antwortete sie mit tonloser Stimme.
»Die Erschöpfung und der Dreck können durch die Großzügigkeit von Erholung und Seife der Auslöschung begegnen«, entgegnete der Plemplem. »Was den verlorenen Mut angeht, so erleidet er nur einen vorübergehenden Tiefpunkt. Das Wiedersehen mit dem glorreichen Weg verspricht eine große Nähe.«
Oksa lächelte zögernd – der Plemplem konnte so tröstlich sein. Er rieb seinen großen flaumigen Schädel an ihr und schmiegte sich an ihre Schulter. Oksa streichelte ihn dankbar. Ihr Blick begegnete dem von Tugdual. Sie schaute hastig zur Seite, denn auch in seinen Augen hatte sie den Schmerz gesehen, den alle teilten, weil sie ihren Sieg so teuer hatten bezahlen müssen. Doch dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf den Getorix, der träge in den Pfützen herumtapste, und auf den Kapiernix unweit von ihr, der zwar etwas verstört dreinschaute, aber trotzdem wieder einmal nicht aus der Ruhe zu bringen war. Eine Merlikokette mühte sich damit ab, Naftalis und Remineszens’ Knöchel von den letzten Ketten zu befreien. Leomidos Plemplems waren in die Rolle von Pflegern geschlüpft und strichen den Verletzten heilende Salben auf die Wunden.
Als Oksa sah, dass alle sich versammelten, um sich von den Verstorbenen zu verabschieden, erhob sie sich ebenfalls. Froschlinge eilten herbei, um ihr ein großes Schirmbaumblatt als Regenschutz über den Kopf zu halten. Dieses Privileg war ihr unangenehm, und sie gab ihnen ein Zeichen, es bleiben zu lassen, doch die Froschlinge reagierten nicht. Da gab Oksa sich geschlagen und ging langsam mit dem Plemplem an ihrer Seite zu den anderen.
Der Sarg von Edgar, dem ehrwürdigen Silvabulaner und Freund ihres Urgroßvaters, war der erste, auf den feuchte Erde fiel.
»Der Tod dieser Leute ist meine Schuld!«, schluchzte Oksa. Sie senkte den Kopf, verbarg das Gesicht hinter ihren Haaren und ließ den Tränen freien Lauf.
»Es ist nicht meine Junge Huldvolle, die das Leben ihrer Anhänger konfisziert hat«, flüsterte ihr der Plemplem zu. »Es ist der vermaledeite Treubrüchige Ocious mit seinen Kriegern.«
Pavel und Zoé kamen zu ihr. Alle Bewohner von Laubkroning begrüßten sie ernst und respektvoll und machten den Weg für sie frei. Plötzlich erhob sich eine Stimme aus der Menge:
»Es lebe unsere Junge Huldvolle!«
Die Leute hoben den Kopf. Bald griffen andere den Ausruf auf, und von allen Seiten erklangen kraftvolle Hochrufe.
Widersprüchliche Gefühle tobten im Innern der Neuen Huldvollen. Wie sollte sie mit dieser Ehrbezeugung umgehen, wo doch die Toten vor ihr lagen? Sie griff nach der Hand ihres Vaters und drückte sie, so fest sie konnte. Die Situation war kaum auszuhalten. Am liebsten hätte sie sich umgedreht, alles hinter sich gelassen und sich verkrochen, um zur Ruhe zu kommen. Oben auf einem Baum oder unter der Erde in einem Bau. Irgendwo, wo sie nicht gesehen wurde. Wo man nichts von ihr erwartete. Wo sie für niemanden eine Gefahr darstellte. Oksa zitterte inzwischen am ganzen Körper. Die Hochrufe der Bewohner von Laubkroning drangen an ihr Ohr, aber nicht in ihr Herz.
»Wenn du dich verweigerst, machst du ihre letzte Hoffnung zunichte, die Welt wiederzufinden, die sie liebten«, flüsterte Pavel, ohne sie anzusehen. »Nimm ihnen nicht den Glauben an dich, Oksa.«
Die Junge Huldvolle nickte ihrem Vater dankbar zu und nahm einen der grünen Triebe entgegen, die Lucy an alle verteilte, damit sie ihren Toten die letzte Ehre erweisen konnten. Sie betrachtete die zarten Wurzeln am Ende des biegsamen Stängels und steckte dann den Trieb in den kleinen Erdhaufen auf Edgars Grab. Sofort regte sich die Pflanze, begann zu wachsen und kräftiger zu werden, und am Ende des Stängels öffnete sich eine wunderschöne Blume mit zarten blauen Blütenblättern. Die Blume verneigte sich, strich über den Boden und stimmte eine beruhigende Melodie an, eine Art Wiegenlied.
Oksa drehte sich zu ihrem Vater um und sah ihn fragend an. Pavel lächelte nur und ging seinerseits auf einen Grabhügel zu.
Die anderen folgten
Weitere Kostenlose Bücher