Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
selben Augenblick war auch schon Orthon zur Stelle. Wäre Oksa nicht durch ihre Invisibellen getarnt gewesen, so hätte sich der Treubrüchige zweifellos auf sie gestürzt. So aber spähte er vergeblich die Wendeltreppe im Baumstamm hinunter.
»Wo ist sie?«, donnerte er.
Der Hauch eines Lächelns huschte über Tugduals Gesicht. Orthon beugte sich über ihn, riss ihn brutal hoch und packte ihn am Kinn.
»Wo? Ist? Sie?«, wiederholte er und betonte dabei jedes einzelne Wort.
Tugdual sah ihn eiskalt an.
»Raten Sie doch mal!«
Aus Orthons Miene sprach rücksichtslose Entschlossenheit. Er ging wieder zur Öffnung im Baumstamm und hielt seine geöffnete Handfläche hinein.
»Orthon!«, brüllte Ocious.
»Vater?«
Ocious warf seinem Sohn einen strengen, fast vorwurfsvollen Blick zu.
»Ach, weißt du, Vater«, sagte Orthon roh, »im Krieg heiligt der Zweck die Mittel.«
Dann schickte er ein Lichterloh den Stamm des Königlichen Baums hinunter. Ein paar Flammen loderten in der Öffnung auf, während der zerstörerische Atem des Feuers im Inneren wütete.
Die Gefangenen aus der Gläsernen Säule schrien entsetzt auf, und der Tintendrache spuckte brüllend eine tiefrote Feuerzunge in den Himmel. Ohne sich im Geringsten davon beeindrucken zu lassen, beobachtete Orthon Tugdual.
»Nun, mein junger Freund, fällt dir noch immer keine Antwort ein?«
Tugdual blickte ihm ungerührt in die Augen.
»Sie vergeuden nur Ihre Zeit«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
Das Feuer breitete sich inzwischen mit rasender Geschwindigkeit im Baum aus, umso mehr, als die Öffnungen zu den Plattformen einen kräftigen Luftzug erzeugten. Auf jeder Ebene schossen Flammen aus den Schachtöffnungen und verbrannten gnadenlos alles, was von den Bauten noch übrig war. Und die Neue Huldvolle konnte nur tatenlos zusehen.
Sie vertikalierte um den riesigen Baum herum, weil sie sich schreckliche Sorgen um die Geschöpfe machte, die sich immer noch in der unterirdischen Behausung zwischen den Baumwurzeln befanden. Hoffentlich drang das Feuer nicht bis dort hinunter! Oksa war kurz davor, sich von ihrer Schicht Invisibellen zu befreien, um sich für den Angriff auf diesen unschuldigen Baum an Orthon zu rächen. Sie flog bis zu den Baumwipfeln hinauf, ganz dicht an ihrem Vater und seinem Tintendrachen vorbei, beobachtete von dort die Lage und ließ den Gedanken wieder fallen. Jede noch so kleine Aktion von ihr würde zu Verlusten führen, das war ganz klar. Man brauchte nur auf die gezückten Granuk-Spucks der Soldaten zu blicken, die auf die Rette-sich-wer-kann angelegt waren …
»Schön!«, sagte Orthon und rieb sich die Hände. Er schien mit sich zufrieden zu sein. »Da unser junger Freund sich nach wie vor in ritterliches Schweigen hüllt, müssen wir zu härteren Maßnahmen greifen …«
Er ging auf Tugduals Mutter Helena zu und riss ihr den kleinen Till aus den Armen.
Voller Panik schrie Helena: »Nein! Lassen Sie meinen Sohn in Ruhe!«
Sie wollte sich auf Orthon stürzen, doch die Kette, mit der sie gefesselt war, ließ sie auf den rauen Holzboden stürzen.
»Ich schlage dir einen Handel vor, mein junger Freund«, fuhr Orthon fort, während er mit dem zappelnden Till im Arm zu Tugdual zurückging.
Helena schluchzte verzweifelt. Neben ihr litten Naftali und Brune Höllenqualen: An Händen und Füßen gefesselt, jeder mit einem Bewacher hinter sich, waren sie völlig machtlos.
»Ich bin nicht Ihr junger Freund!«, schleuderte ihm Tugdual entgegen, während er vergeblich versuchte, sich aus dem eisernen Griff der Soldaten, die ihn bewachten, zu befreien.
Orthon stand jetzt ganz dicht vor ihm, ihre Gesichter waren nur noch eine Handbreit voneinander entfernt.
»Nein, da hast du allerdings recht«, sagte Orthon mit einem niederträchtigen Lächeln. »Du bist weit mehr als das.«
Sekundenlang fixierte er den Jungen mit seinen metallgrauen Augen. Niemand sagte ein Wort, nur Helenas lautes Schluchzen und das Knistern der Flammen in den Zweigen des Königlichen Baums waren zu hören.
Oksa kochte vor Wut. Orthon, Tugdual und Till waren nur eine Armlänge von ihr entfernt, doch solange sie unsichtbar war, konnte sie nichts tun.
»Nun gut«, fuhr Orthon fort, »schreiten wir also zu unserem Handel! Er ist von kindlicher Einfachheit, könnte man sagen.« Dabei streichelte er Tills blonde Locken. »Das Leben dieses reizenden kleinen Kerlchens gegen die Herausgabe unserer von allen so geliebten Jungen Huldvollen. Sie ist nämlich
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