Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
seinem dampfenden Getränk und verzog das Gesicht: Er hatte vergessen, im Geiste eine Wahl zu treffen – für einen starken schwarzen Kaffee –, und Gaumax pur schmeckte doch ziemlich abscheulich.
Exakt eine Stunde später hatten sich alle in dem Saal versammelt, den Oksa entdeckt und für diesen Zweck als ideal befunden hatte. Er lag im Zentrum des obersten Stockwerks der Gläsernen Säule, zwischen der Memothek und den Huldvollen-Gemächern. Die hellgelbe Glasdecke ließ das Licht milder erscheinen, ohne dass dadurch die vom Großen Chaos herrührenden Spuren der Zerstörung vertuscht worden wären. Offenbar war der Saal im Gegensatz zu den anderen Räumen der Säule kaum benutzt worden; Ocious war er wohl nicht repräsentativ genug gewesen. Oksa hingegen hatte an seiner überschaubaren Größe und der persönlichen Atmosphäre, die er ausstrahlte, sofort Gefallen gefunden. Die Schmutzfatze und Wuschelinen hatten alles geputzt und auf Hochglanz poliert; die Plemplems hatten für die Einrichtung gesorgt, indem sie ein kunterbuntes Arsenal ungenutzt herumstehender Möbelstücke aus anderen Räumen herbeigeschafft hatten. Und so glich der Runde Saal nun eher einem gemütlichen Wohnzimmer.
»Mir gehen ein paar Fragen durch den Kopf …«, begann Oksa.
Sie saß in einem roséfarbenen Schlangenledersessel und hatte die Unterarme artig auf die Lehnen gelegt. Ihr Vater und Abakum waren die Einzigen, die sich nicht von dieser scheinbaren Ruhe täuschen ließen. Die Neue Huldvolle sah die Diener des Pompaments, die um kleine Tischchen herumsaßen, mit ernster Miene an. »Ich brauche euren Rat und eure Hilfe: Was machen wir jetzt? Ich meine … was ist unser Ziel?«
Abakum räusperte sich und ließ sich Zeit mit seiner Antwort.
»Meine liebe Kleine … meine Huldvolle … Was wir vorhaben, hängt zum Teil von dem Geheimnis ab, das dir in der Kammer des Umhangs offenbart worden ist«, sagte er schließlich.
»Warum?«, fragte Oksa nervös. Sie verspürte eine ungeheure Verwirrung.
»Falls der Weg ins Da-Draußen für immer versperrt bleiben sollte, dann hätte das Auswirkungen auf unsere … Motivation«, antwortete Abakum vorsichtig. »Ganz zu schweigen von der unserer Feinde.«
Niemandem entging der eindringliche Blick, mit dem Oksa ihn anschaute.
»Unsere Zukunft hängt gänzlich davon ab.«
»Verstehe«, murmelte das Mädchen. Sie holte tief Luft, drückte den Rücken gegen die Sessellehne und sagte:
»Die Alterslosen Feen konnten nicht noch einmal ein Geheimnis-das-nicht-enthüllt-werden-darf einsetzen, weil es kein solches mehr gibt. Daher haben sie mir ein neues Geheimnis anvertraut: das Flüchtige Geheimnis.«
Der Plemplem, der sich ganz in ihrer Nähe hielt und hoch konzentriert auf jedes Wort und jedes eventuelle Bedürfnis seiner Herrin achtete, zuckte zusammen.
»Genau wie das vorherige und überhaupt jedes Geheimnis ist auch dieses an bestimmte Regeln gebunden: Es darf nicht verraten werden«, führte Oksa aus, und dabei bildete sich eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn. »Und doch ist es ganz anders als das Geheimnis zuvor. Ihr erkennt schon an seinem Namen, dass die Umstände, die hier zurzeit herrschen, ihm einen vorläufigen Charakter verleihen.«
Alle nickten ernst.
»Ich kann euch nicht alles erzählen …«
»Bring dich nicht in Gefahr!«, unterbrach Pavel sie hastig.
Oksa warf ihm einen beschwichtigenden Blick zu.
»Mein Leben wird durch das Geheimnis nicht bedroht.«
Tiefe Erleichterung breitete sich auf Pavels Gesicht aus, ebenso wie auf den Gesichtern der anderen.
»Kann das Tor noch einmal geöffnet werden?«
Pavel hatte die Frage gestellt, er hatte einfach nicht anders gekonnt. Und sie war ohnehin unausweichlich gewesen. Dennoch krampfte sich Oksas Herz jetzt zusammen. Sie wandte sich Hilfe suchend zu ihrem Plemplem um: Er war vor lauter Schreck ganz durchsichtig geworden. Abakum hatte die Augen geschlossen, und der ganze Saal schwieg erwartungsvoll. Als Oksa antwortete, war ihre Stimme lauter, als sie gedacht hatte.
»Ja.«
Schlagartig ließ die Anspannung nach. Alle sahen einander mit feuchten Augen an, während Oksa selbst vom Schock dieser Enthüllung überwältigt wurde. Das schreckliche Bild der Abgewiesenen am Ufer des Goshun-Sees traf sie wie ein Peitschenhieb. Sie schüttelte hastig den Kopf, doch das half nichts … Die Erinnerungen überfluteten sie: der überfüllte russische Flughafen mit all den hysterischen Menschen, der Zitronenduft von Gus’ Haar, der
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