Oksa Pollock. Die Unverhoffte
mehr.«
»Wer sagt denn etwas von zurück?«, fuhr Pavel sie an. »Wir müssen das alles stoppen.«
»Mal angenommen, wir würden es jetzt stoppen«, warf Pierre Bellanger ein, »wie würdest du bitte Orthon davon überzeugen wollen? Wie Tugdual schon sagte, der Countdown hat begonnen. Die Dinge nehmen bereits ihren Lauf, Pavel. Und uns bleibt nichts anderes übrig, als uns dem zu stellen, was uns das Schicksal beschert.«
»Und euch kommt das nur gelegen, nicht wahr?«, erwiderte Pavel bitter.
»Oksa? Kommst du jetzt raus aus deinem Versteck? Und du auch, Gus«, sagte Abakum plötzlich, ohne sich umzudrehen.
Ein wenig betreten erhoben sich die beiden, die sich hinter einem Sofa versteckt hatten, um die Unterhaltung zu belauschen. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, um einen möglichst folgsamen Eindruck zu erwecken, setzten sie sich zu den Erwachsenen.
»Es ist an der Zeit, dich zu bewaffnen, Oksa …«
Der Feenmann
B
ei ihrem letzten Besuch bei Abakum hatte Oksa noch keine Ahnung davon gehabt, was für ein außergewöhnlicher Mensch der Patenonkel ihrer Großmutter war – ihr Beschützer, wie Dragomira ihn nannte. Selbst wenn man seine verblüffende Verwandlung in einen Hasen einmal außer Acht ließ, erschien ihr dieser diskrete und geheimnisvolle Mann inzwischen als der Inbegriff eines Menschen, dem man vertrauen konnte. Malorane hatte auf seine Treue gesetzt und richtig daran getan. Er hatte sein Wort gehalten und sein Leben ungeachtet aller Widerstände ganz dem Schutz Dragomiras gewidmet, auch dann noch, als diese zu einer Frau herangewachsen war, die sich ganz gut selbst verteidigen konnte.
Ob er einmal verheiratet gewesen war? Oder verliebt? Oksa wusste es nicht, nahm sich jedoch vor, ihn bei Gelegenheit danach zu fragen.
Während er sein Motorrad mit Beiwagen über die schmale Straße zu dem ehemaligen Bauernhaus lenkte, in dem er wohnte, betrachtete sie ihn von der Seite. Seine Gesten, auch die ganz alltäglichen, strahlten dieselbe Ruhe und Gelassenheit aus wie seine ganze Person.
Seit Oksa denken konnte, war er für sie immer ein Familienmitglied gewesen. In der Heilkräuterhandlung, die er dreißig Jahre lang mit Dragomira betrieben hatte, schien die Baba Pollock die tragende Säule gewesen zu sein. Ihre barocke Art und charismatische Ausstrahlung hatten ihnen Aufmerksamkeit und Ansehen eingetragen, vor allem während der letzten paar Jahre, in denen sich der Ruf des bescheidenen Betriebs bis ins Ausland verbreitet hatte.
Trotz Dragomiras außergewöhnlicher Kenntnisse hatte Abakum mit allen Mitteln versucht, ihren Elan gegenüber der Presse zu bremsen, und jegliche Werbung abgelehnt. Oksa hatte hin und wieder eine lebhafte Diskussion darüber zwischen den beiden mitbekommen und Abakums Reaktion immer übertrieben gefunden. Warum war er so übervorsichtig?, hatte sie sich gefragt. Inzwischen verstand sie es: Jeder noch so kleine Artikel über Dragomira und ihr Gespür für Heilkräuter konnte in die falschen Hände geraten. Zum Beispiel in die von Orthon.
Sie erinnerte sich noch an den letzten Artikel, der wenige Monate vor ihrem Umzug nach London in einer amerikanischen Fachzeitschrift erschienen war. Der Journalist hatte nicht mit Lob gegeizt und Dragomira als »Genie der sanften Medizin« und »Magierin der Pflanzenwelt« betitelt. Die Magierin hatte sich zwar geweigert, sich fotografieren zu lassen, doch ihr Name war klar und deutlich zu lesen gewesen.
Das Motorrad mit Beiwagen durchquerte ein Dorf und bog auf einen von Weißdornbüschen gesäumten Weg ein. Vor einem hohen Gittertor hielten sie an. Abakum stieg vom Motorrad, nahm seinen Helm ab und zog eine kleine Schachtel aus seiner Satteltasche. Darin war eine Art leuchtend grüner Skarabäus, den er in das Schloss kriechen ließ. Sofort ging das Tor auf.
Sieh einer an, staunte Oksa, ein lebendiger Schlüssel! Wie interessant!
Abakum parkte das Motorrad im Hof, verschloss sorgfältig das Tor und sammelte den Skarabäus wieder ein. Das Grundstück, auf dem das Haupthaus stand, war von einer sehr hohen Mauer aus flachen Steinen umgeben, in die zwei offenbar gepanzerte Türen eingelassen waren. Das herrliche, renovierte alte Bauernhaus war nicht weniger ausgefallen als das Haus von Leomido, hatte allerdings einen ganz anderen Stil. Lange Zeit hatte Abakum es nur als Ferienhaus genutzt, doch seit sie aus Frankreich weggezogen waren, wohnte er ganz dort, da ihm das Leben auf dem Land lieber war als der Trubel in der
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