Oksa Pollock. Die Unverhoffte
pulverisiert, als ich auf die Welt kam«, antwortete Abakum wehmütig.
»Oh!« Oksa schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Wie schrecklich! Soll das heißen, dass deine Mutter gestorben ist, kaum dass du geboren warst?«
»Sozusagen«, bestätigte Abakum mit einem traurigen Lächeln. »Die Alterslosen sind offenbar anders beschaffen als die Menschen, denn meine Geburt folgte unmittelbar auf meine Zeugung. Und sie führte zum Verschwinden meiner Eltern.«
»Wie schrecklich«, wiederholte Oksa. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Ich finde eigentlich, dass es eine schöne Geschichte ist«, sagte der alte Mann, und seine Augen leuchteten. »Sie waren sich beide bewusst, welches Risiko sie eingingen. Doch nicht einmal die Aussicht auf den Tod konnte ihrer Liebe etwas anhaben – eine vollkommene Liebe.«
»Und wie ging es dann weiter?«, fragte Oksa mit erstickter Stimme.
»Am nächsten Morgen fanden mich zwei Nachbarn, alarmiert von meinem hungrigen Schreien, im Haus meines Vaters. Ich war ganz allein, nackt und schmutzig. Da sie nicht wussten, was sie tun sollten, gaben sie mir zu trinken und brachten mich zur Huldvollen Malorane, die sofort Nachforschungen anstellen ließ. Niemand hatte bemerkt, dass womöglich eine junge Frau in das Leben meines Vaters getreten war und sein Herz erobert hatte, alle waren vollkommen ratlos.
Tagelang durchkämmten Dutzende von Männern Wälder und Wiesen, stocherten in Seen, suchten in Höhlen. Doch man fand nirgends eine Spur von meinen Eltern. Sie hatten sich in Luft aufgelöst. Über viele Wochen rätselte ganz Edefia. Jeder hatte irgendeine Theorie, was passiert sein könnte, da ja weder irgendwo eine junge Frau vermisst wurde noch eine Geburt bekannt geworden war. Manche mutmaßten, meine Eltern wären von Bienen angegriffen worden, andere nahmen an, die junge Frau habe ihr Kind heimlich zur Welt gebracht, um dem Zorn ihrer Eltern zu entgehen. Wieder andere vertraten die Theorie, Tiburz habe versucht, die Feeninsel zu betreten, und sei wegen dieser Unvorsichtigkeit in einen Beflissenen verwandelt worden …«
»Einen Beflissenen?«
»Das sind kleine Männer, halb Mensch, halb Hirsch, die zur Strafe für ihre Neugier mit einem Zauber belegt wurden.«
»Wieso zur Strafe für ihre Neugier?«, fragte Oksa. »Was haben sie denn getan?«
»Sie wollten die Feen sehen.«
»Aber es ist doch normal, dass man die Feen sehen will, oder?«, empörte sich Oksa. »Wie grausam, sie dafür zu bestrafen!«
»Mag sein«, gab Abakum zu. »Aber du darfst nicht vergessen, dass die Strafe, die ihnen auferlegt wird, auch ein großes Privileg ist. Zwar verwandelt sich ihre untere Körperhälfte in die eines Hirsches und sie haben ein Geweih auf dem Kopf, aber dafür können sie bis zu ihrem Lebensende auf der Feeninsel leben. Und das entspricht ja ihrem innigsten Wunsch. Was meinen Vater angeht, kam diese Theorie, wie du bestimmt gemerkt hast, der Wahrheit am nächsten.
Viele Jahre später hatte ich Gelegenheit, im Archiv des Klarblick – so heißt die Tageszeitung von Edefia – zu forschen, und du kannst mir glauben, dass alle Möglichkeiten durchgespielt worden waren, von völlig abstrus bis zutiefst romantisch. Doch niemand kam darauf, was sich in Wirklichkeit zugetragen hatte, und ebenso wenig wurden meine Eltern je gefunden. Daher hat mich Malorane jenem Silvabulaner-Ehepaar anvertraut, von dem ich dir erzählt habe, Mikka und Eva. Die beiden haben mich geliebt wie ihren eigenen Sohn und ich verdanke ihnen sehr viel. Für sie war es auch nicht leicht.«
Oksa hielt es vor Spannung kaum aus. Sie brannte darauf, mehr zu erfahren.
»Indem sie mich zu sich nahmen, mussten sie auch das Geheimnis meiner Geburt akzeptieren. Wenn in Edefia ein Kind auf die Welt kommt, erhält es seinen ganz persönlichen Ring, der aus seiner DNA und dem Saft einer Goranov speziell angefertigt wird, genau wie die Granuk-Spucks. Als man meinen Ring anfertigen wollte, stellte man fest, dass meine DNA vollkommen ungewöhnlich war – dass sie keinem in Edefia bekannten Lebewesen entsprach. Nur vier Personen wussten darüber Bescheid: Malorane, meine Adoptiveltern und der Hersteller des Rings, der durch sein Amt sowieso zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet war. Du kannst dir bestimmt vorstellen, dass mir als Kind grenzenlose Aufmerksamkeit vonseiten Maloranes und meiner Eltern zuteilwurde: Alle drei waren besorgt und auch neugierig, was mich betraf, und das war manchmal nicht so einfach für
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