Oksa Pollock. Die Unverhoffte
klarkommen! Außerdem hatte ich gerade eine Menge Sachen gelernt, die ich euch gern vorführen wollte, aber das hat euch gar nicht interessiert. Ihr habt gar nicht kapiert, dass mein Leben gerade auf den Kopf gestellt worden war! Ihr habt einfach mit eurer Geheimniskrämerei weitergemacht, ohne euch um Mama und mich zu kümmern. Ich war so furchtbar zornig, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Die Wut in mir ist immer größer geworden. Und als Mama dann gefragt hat, ob ihr nichts vor ihr verschweigt, und ihr sie eiskalt angelogen habt, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Es passierte wie von selbst, ich konnte nicht mehr damit aufhören …«
»Und wie fühlst du dich jetzt?«, fragte Abakum sanft.
»Jetzt? Willst du wirklich wissen, wie ich mich jetzt fühle?«
»Ja«, sagte Abakum nur.
»Na gut. Seht ihr den Regen da draußen?«
Alle drehten sich zum Fenster. Ein heftiger Sturzregen ging auf den Platz nieder. Im selben Moment ließ ein Donnerschlag die Fensterscheiben erbeben.
»Ich fühle mich wie das Wetter heute: Ich bin voller Tränen, ich ertrinke darin«, sagte Oksa mit zitternder Stimme.
Die vier Erwachsenen sahen sich betroffen an. Die Erschütterung darüber, dass sie Oksa mit ihrer Zurückhaltung und ihrem mangelnden Einfühlungsvermögen in diese schlimme Lage gebracht hatten, war ihnen deutlich anzusehen. Endlich erkannten sie die Signale, die Oksa seit Tagen aussandte, indem sie von Lachen zu Weinen wechselte und ihre Stimmung zwischen überschwänglicher Begeisterung und tiefster Verzweiflung schwankte. Doch ob sie auch ihre Wut begriffen, diese abgrundtiefe und kochende Wut, die Oksa nun schon seit Tagen beherrschte?
Pavel ging zu seiner Tochter, kniete sich neben ihren Stuhl und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Es tut uns leid, was passiert ist«, sagte er, so sanft er konnte. »Ärgere dich bitte nicht. Du hast recht, wir haben deine Fragen nicht beantwortet. Aber wir werden dir das, was du wissen musst, später erklären, zu gegebener Zeit. Noch ist es zu früh …«
»ZU FRÜH!«, schrie Oksa, sofort wieder in Rage. »Ihr habt nicht das Recht, mich einfach so hängen zu lassen, als wäre ich zu dumm, um irgendetwas zu verstehen!«
Bei diesen Worten sprang sie auf, stemmte die Fäuste auf die Tischplatte und starrte die vier Erwachsenen einen nach dem anderen mit flammendem Blick an. Als sie nichts sagten und auch sonst keine Reaktion zeigten, spürte sie, wie die Wut in ihrer Brust sich in Wellen ausbreitete und sich schließlich in ihrem Kopf sammelte. Diese Empfindung kannte sie schon von dem Zusammenstoß mit dem fiesen Neuntklässler in der Toilette und von dem schrecklichen Gewitter ein paar Tage nach Schuljahresanfang. Sie schlug die Augen nieder und versuchte sich zu beruhigen, aber es half nicht.
Der Schreck fuhr ihr in die Glieder, als sie sah, wie der Becher mit heißem Kakao, der vor ihr stand, sich in die Luft erhob. Er flog in Richtung Wand und spritzte dabei Dragomira voll. Der Becher zerbrach von der Wucht des Aufpralls und eine braune Kakaospur zog sich über die Wand.
»SEHT DOCH NUR, WOZU IHR MICH TREIBT!«, schrie Oksa außer sich.
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte aus der Küche. Ihr Vater sprang auf und holte sie in der Diele ein, wo er einen großen Spiegel gerade noch vor demselben Schicksal wie dem des Bechers bewahren konnte.
»Willst du hier alles zerstören?«, stieß Pavel mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Lass mich in Ruhe, Papa! Lasst mich alle in Ruhe!«, schrie Oksa und versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff ihres Vaters zu befreien, der sie am Arm festhielt.
Das gelang ihr, aber mit einer so heftigen Bewegung, dass sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.
»Und jetzt«, donnerte ihr Vater, »beruhigst du dich augenblicklich und hörst mir zu! Es ist für uns alle eine schwere Zeit und es ist für uns alle sehr kompliziert, das kannst du mir glauben. Mach es also nicht noch schlimmer, bitte!«
»Zu kompliziert, um mit einem kleinen Kind wie mir drüber zu reden, meinst du wohl? Dann hättet ihr mir gar nicht erst so viel erzählen dürfen! Was mit Mama passiert ist, ist eure Schuld! ICH HASSE EUCH!«
Oksa schrie sich die Lunge aus dem Leib. Sie erstickte fast vor Wut und zitterte von Kopf bis Fuß. Pavel hielt Oksa die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sie ignorierte die Geste, stand auf und stürmte in ihr Zimmer. Dabei kostete es sie große Mühe, nicht jeden Moment in Schluchzen
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