Oksa Pollock. Die Unverhoffte
jetzt Bescheid. Ich habe eine Vorführung vor ihren Augen gemacht, ich Vollidiot. Papa spricht gerade mit ihr, und es läuft gar nicht gut, sie streiten sich. Ich schaue mal, ob ich was rausfinden kann, und halte dich auf dem Laufenden. Bis morgen. Oksa, der größte Depp der Welt!
Ohne an das Ergebnis ihres letzten Spionageversuchs zu denken, ging sie in den Flur und setzte sich auf den Boden. Obwohl die Wohnzimmertür geschlossen war, konnte Oksa genau hören, was drinnen gesagt wurde, so laut redeten ihre Eltern.
»Unsere Tochter ist die Erbin der Macht in Edefia, sie trägt das Mal …«
»Genau, und ich bin Tinker Bell!«, entgegnete ihre Mutter mit einem irren Lachen.
»Warum sollte ich denn lügen, Marie? Das bringe ich gar nicht fertig. Oksa hat eine Reihe von Kräften, die sie erst zum Teil nutzen kann, doch ihr Potenzial ist unglaublich! Sie birgt eine sagenhafte Macht in sich, mehr als irgendjemand sonst.«
»Hör auf! Du treibst mich noch in den Wahnsinn mit deinen haarsträubenden Geschichten! Mit deinem Edifia und all dem!«
»Edefia …«
»Und selbst wenn ich dir glauben sollte – wieso sagst du es mir erst jetzt? Wie lange sind wir verheiratet? Du scheinst dich nicht daran zu erinnern, also helfe ich deinem Gedächtnis mal auf die Sprünge: ACHTZEHN JAHRE!«
»Komm«, sagte ihr Mann mit einem tiefen Seufzer. »Ich zeige dir was. Lass uns zu Dragomira gehen, dann wird es dir leichter fallen, zu verstehen …«
Die Tür öffnete sich, doch ihre Eltern waren so in ihren Streit vertieft, dass sie an Oksa, die elend in einer Ecke kauerte, vorbeigingen, ohne sie auch nur wahrzunehmen. Das machte es nur noch schlimmer für sie.
Dragomira erwartete Pavel und Marie bereits auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock. Oksa folgte ihnen nun ebenfalls und setzte sich auf die oberste Stufe. Kurz darauf stieß Marie einen markerschütternden Schrei aus. Jetzt hat Mama bestimmt den Plemplem gesehen, sagte sich Oksa. Die Diskussion wurde nun in der Wohnung im zweiten Stock genauso hitzig fortgeführt, wie zuvor.
Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte Oksa als Erstes, dass sie in ihrem Bett lag. War sie vor Dragomiras Wohnungstür eingeschlafen? Wer hatte sie in ihr Zimmer gebracht? Wie war die Diskussion zwischen ihren Eltern ausgegangen? Hatte Pavel es geschafft, ihrer Mutter alles zu erklären? Doch als sie zum Frühstück in die Küche hinunterging, stand sie vor einer viel wichtigeren Frage.
»Wo ist Mama?«, fragte sie unsicher.
Alle waren da, die ganze Familie: ihr Vater, Dragomira – die endlich wieder aus ihrer Wohnung gekommen war –, Leomido und Abakum. Dadurch fiel Maries Abwesenheit noch mehr auf.
»Deine Mutter ist bei ihrer Schwester«, sagte Pavel mit müder und trauriger Stimme.
»Ist sie mir böse? Ist das der Grund?«, fragte Oksa nach einem kurzen Schweigen unvermittelt.
»Nein, dir nimmt sie nichts übel«, sagte ihr Vater und schob ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier zu.
Oksa, meine liebste Tochter, ich fahre für ein paar Tage zu deiner Tante Geneviève, ich muss mir das alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Ich komme bald wieder. Vergiss nicht, dass ich dich liebe, Mama
Kaum hatte sie fertig gelesen, sagte Dragomira:
»Es ist sehr schlimm, was du da getan hast, Oksa. Du hast dich deiner Mutter und uns allen gegenüber furchtbar benommen.«
»Ich weiß, Baba, es tut mir leid!«, rief Oksa mit Tränen in den Augen. »Ich bin ein Vollidiot, es tut mir wirklich leid!«
»Wir wissen, dass es dir leidtut«, sagte Leomido gereizt. »Aber jetzt ist es zu spät. Deine Mutter hat einen regelrechten Schock erlitten, es kam alles sehr plötzlich für sie.«
»Für mich kam es auch sehr plötzlich!«, rief Oksa. »Wenn ihr es uns beiden früher gesagt hättet, wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen!«
Sie ließen sich alle vier ihre scharfe Bemerkung gefallen, ohne sich zu verteidigen: Oksa hatte nicht ganz unrecht.
»Wie hast du dich gefühlt? Wieso hast du das gemacht?«, fragte Abakum mit einer wohlwollenden Miene, die in völligem Gegensatz zur Strenge der drei anderen Erwachsenen stand.
Oksa dachte versonnen nach, ehe sie antwortete. Sie kaute eine Weile an ihren Nägeln, legte dann den Kopf schief und erklärte: »Zuerst habe ich ganz unglaubliche Dinge erfahren, und dann habt ihr euch alle in Luft aufgelöst und euch geweigert, meine Fragen zu beantworten. Ich musste ganz allein mit diesem Riesending , das ihr da bei mir abgeladen hattet,
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