Oksa Pollock. Die Unverhoffte
hochgezogenen Augenbrauen vor dem Kerzenleuchter stehen.
»Hast du vorhin was von Müdigkeit gesagt, Leomido? Ich glaube, ich habe mich bei euch angesteckt«, sagte Marie.
Oksa dagegen platzte nun erst recht vor Energie. Als alle drei Kerzen brannten, lösten sich ein Dutzend kleine Flämmchen daraus und begannen, wie verrückt gewordene Glühwürmchen in einem kunterbunten Durcheinander um ihre Köpfe zu schwirren. Diese Anarchie gefiel Oksa gar nicht, also versammelten sich die Flämmchen knapp unterhalb der Decke und schossen auf Oksas Befehl im Sturzflug auf Pavels und Maries Köpfe zu, um im letzten Moment eine Vollbremsung einzulegen.
Auf der anderen Seite des Tisches warfen sich Leomido und Abakum bestürzte Blicke zu. Leomido trat Oksa gegen das Schienbein, während Abakum ihre Hand drückte, um sie zur Vernunft zu bringen. Vergeblich, denn Oksa schenkte ihm, während sie das Luftballett der Flämmchen mit dem Finger dirigierte, nur ein halb zufriedenes, halb spöttisches Lächeln, ganz nach dem Motto: Ich bin ein Teenie, der seinem Ruf alle Ehre macht, denn ich tue, was ich will und wann ich es will!
Maries Aufmerksamkeit wurde unweigerlich von dem Licht – und von Abakums und Leomidos beunruhigten Blicken – in Richtung Decke gelenkt, und alle hielten die Luft an, aufs Schlimmste gefasst … Doch Marie schlug die Augen wieder nieder und blieb reglos sitzen. Dann blinzelte sie, als wollte sie das Bild, das sie gesehen hatte, verscheuchen, rieb sich mit der Hand über die Augen und aß weiter.
Abakum nutzte die kurze Pause, um das Gespräch auf ein aktuelles Thema zu bringen, das Oksa überhaupt nicht interessierte. Sie war damit beschäftigt, sich zu überlegen, was sie als Nächstes tun könnte – sie war vollkommen überdreht und zu allem bereit. Ein Blick durch den Raum und sie wurde fündig: der Wasserhahn! Das wäre mal was Neues! Nach dem Feuer das Wasser … sie würde bei der Kategorie der Elemente bleiben. Fantastisch!
Sie fixierte den Hahn der Spüle in der Küche und ließ ihren Zeigefinger unauffällig kreisen. Gleich darauf floss ein dünnes Rinnsal heraus, das bald zu einem weitaus spektakuläreren Strahl anwuchs. Das Wasser spritzte wild herum und traf Leomido und Pavel, die der Spüle am Nächsten saßen. Marie schrie auf, und Pavel schnellte mit einem Satz hoch, um den Hahn zuzudrehen, was durch den starken Wasserdruck gar nicht so einfach war.
»Hör sofort auf damit, Oksa! ES REICHT!«, sagte er in scharfem Ton.
Marie sah ihn überrascht an. »Aber sie hat doch gar nichts getan, Pavel. Der Wasserhahn leckt.«
Auf Oksas Gesicht zeichnete sich ein breites selbstzufriedenes Grinsen ab: Panik an Bord, besonders bei ihrem Vater. Treffer, versenkt! Er hätte es ihr eben irgendwann im Lauf der letzten Jahre sagen müssen, dachte sie wuterfüllt. Ohne den Worten ihres Vaters die geringste Beachtung zu schenken, kam sie zum krönenden Abschluss ihres Programms. Zum Erstaunen ihrer Mutter erhob sich der Brotkorb, der mitten auf dem Tisch stand, etwa einen halben Meter in die Luft, flog eine kleine Runde und entleerte sich dann in Pavels Teller.
Eine Flut von Magie
M
arie sprang abrupt vom Tisch auf und warf dabei ihren Stuhl um.
»Jetzt sagt ihr mir aber sofort, was hier los ist! Was soll das Theater?«, schrie sie. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr, aber wieso kommt es mir so vor, als sei ich die Einzige?«
Obwohl Leomido das deutliche Gefühl hatte, dass der Ärger erst anfing, lächelte er Oksas Mutter zaghaft an.
»Würdest du mit mir kommen, Marie?«, fragte Pavel bedrückt. Kreidebleich nahm er seine Frau beim Arm und führte sie ins Wohnzimmer.
Leomido und Abakum warfen Oksa vorwurfsvolle Blicke zu, ihr Schweigen sagte mehr als tausend Worte.
»Es tut mir leid«, murmelte sie und biss sich beschämt auf die Lippen.
»Uns auch, Oksa, uns auch«, sagte Abakum mit großem Nachdruck, und Oksa wusste überhaupt nicht, wie sie diese doppeldeutigen Worte verstehen sollte.
Dann stand Abakum auf, Leomido folgte ihm sogleich. Beide gingen aus der Wohnung und ließen Oksa mit ihren Schuldgefühlen allein.
Als sie sich in ihr Zimmer zurückzog, redeten ihre Eltern immer noch miteinander. Die Gesprächsfetzen, die aus dem Wohnzimmer zu ihr drangen, waren alles andere als beruhigend: Die Unterhaltung verwandelte sich allmählich in einen heftigen Streit.
Oksa setzte sich an ihren Computer und schrieb eine Mail:
Gus, ich habe einen großen Fehler gemacht. Meine Mutter weiß
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