Oksa Pollock. Die Unverhoffte
besser, kein Öl ins Feuer zu gießen!
Ausrutscher (un)kontrollierter Art
M
arie Pollock musste nicht alles bis ins kleinste Detail wissen, um zu merken, dass etwas vorgefallen war. Seit der Ankunft von Dragomiras Freunden am Anfang der Woche lag etwas in der Luft. Ihr war sehr wohl aufgefallen, dass Pavel und Oksa am Montagabend erst nach Mitternacht aus dem zweiten Stock heruntergekommen waren, und fast hätte sie mit ihrem Mann geschimpft, weil er ihre Tochter an einem Wochentag so lange hatte aufbleiben lassen. Beim Anblick von Pavels bekümmerter Miene am nächsten Morgen hatte sie es jedoch nicht übers Herz gebracht.
Unter Einsatz all ihrer Feinfühligkeit hatte sie seither versucht herauszufinden, was los war. Doch Pavel hüllte sich, wie er es so gut konnte, in ein undurchdringliches Schweigen. Und so herrschte an diesem Abend eine seltsam geladene und zugleich bedrückte Stimmung am Tisch.
Leomido und Abakum hatten sich zu der kleinen Familie gesellt. Die beiden Männer, deren Gesellschaft sonst so angenehm war, waren heute wenig redselig. Vielleicht machte ihnen Dragomiras Erschöpfungszustand mehr zu schaffen, als Marie angenommen hatte. Leomidos Anwesenheit war ein deutliches Zeichen: In den letzten zehn Jahren war er nie länger als zwei Tage bei ihnen gewesen und jetzt war er schon fast eine ganze Woche da.
»Kommt Dragomira nicht zum Essen?«, fragte Marie, um das Schweigen zu brechen.
»Nein, liebe Marie, sie fühlt sich nicht gut«, antwortete Leomido mit einem gütigen Blick.
»Ich hoffe nur, dass ihr nichts Ernsthaftes vor mir verbergt«, sagte Marie.
»Sei ganz unbesorgt, Liebling«, antwortete nun Pavel. »Es ist alles in Ordnung. Sie hat nur einen vorübergehenden Schwächeanfall.«
Das ist doch wirklich die Höhe!, dachte Oksa ärgerlich. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und funkelte ihren Vater böse an. Abakum und Leomido saßen mit strengen Mienen kerzengerade auf ihren Stühlen.
»Was habt ihr nur alle heute Abend?«, fragte Marie verunsichert.
»Die Müdigkeit, Marie, die Müdigkeit«, sagte Leomido in einem Ton, der mild klingen sollte, es aber absolut nicht war.
Bei Oksa konnte von Müdigkeit allerdings nicht die Rede sein, im Gegenteil. Unverständnis und Ungeduld brodelten in ihr und zerrten an ihren Nerven. Das kurze Gespräch mit ihrem Vater hatte ihr zwar gut getan, aber sie hatte immer noch viele Fragen: Was war aus Malorane geworden? Warum war sie nicht zusammen mit den anderen aus Edefia geflohen? Was hatte es mit dem Phönix auf sich? Hatte schon mal jemand versucht, nach Edefia zurückzukehren? Wusste man überhaupt, wo es lag? Und wie viele waren eigentlich geflohen? Wer hatte den Journalisten umgebracht? Warum wollten sie ihr alle nicht antworten? Und warum logen sie jetzt ihre Mutter an? Es gab nichts anderes mehr, nur noch: Warum, warum, warum? Und keine Antworten! Ihr so mühsam unterdrückter Ärger kochte wieder in ihr hoch.
Oksa musterte ihre Mutter, die gerade die Salatsoße verrührte. Marie kehrte ihnen den Rücken zu und beugte sich leicht über die Arbeitsplatte, ihre Schultern hoben und senkten sich im Takt ihres Arms. Es ist echt unfair, sie im Unklaren zu lassen, dachte Oksa.
Da überkam es sie: der Drang, zur Tat zu schreiten! Sie würde es sich nie eingestehen, doch im Grunde ihres Herzens wollte sie ihren Vater für sein distanziertes Verhalten bestrafen, das er ihr gegenüber diese ganze seltsame Woche lang an den Tag gelegt hatte.
Plötzlich fanden sich alle Bestecke aufrecht in der Mitte des Tisches wieder und wirbelten im Kreis herum. Natürlich, ohne dass Oksa Hand anlegte! Sie begnügte sich damit, auf den Tisch zu klopfen, als wollte sie den Takt zu diesem bizarren Ballett angeben.
Panisch griffen die drei Männer nach den Messern und Gabeln und legten sie wieder neben die Teller, gerade rechtzeitig, bevor Marie an den Tisch zurückkehrte.
Doch Oksa war nicht mehr zu bremsen. Der Magnetus war ja witzig, doch nun wollte sie sich an etwas Schwierigeres wagen. Ihre Mutter brachte sie auf die Idee für ihre nächste Zielscheibe: Sie war gerade wieder aufgestanden, um die Duftkerzen auf dem runden Tischchen im Durchgang zur Küche anzuzünden. Die erste Kerze zündete Marie noch mit dem Feuerzeug an. Um die zweite kümmerte sich Oksa auf die selbstverständlichste Art der Welt: Sie öffnete die Hand und schickte vom Tisch aus einen winzigen Feuerball geradewegs zum Docht! Das Feuerzeug in der Hand, blieb ihre Mutter mit
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