Oksa Pollock. Die Unverhoffte
O.P. 29/09/96 Paris (Fr.) 05/09 – das bist du!«
Er stöhnte und schaute zu Oksa hinüber, die kreidebleich geworden war.
»Tja, da hast du wohl einen Volltreffer gelandet«, flüsterte sie entsetzt.
»Wenn die darauffolgenden Zahlen auch Daten sind, würde es in deinem Fall Mai 2009 heißen …«, sagte Gus.
»Und das würde bedeuten, dass er mich zu dem Zeitpunkt schon kannte. Er ist wegen mir an die Schule gekommen, ich hatte recht!«
»Es scheint so, ja«, sagte Gus leise. »Von meiner Mutter ganz zu schweigen …«
Oksa fröstelte. Ihre Theorie hatte sich heute bestätigt. Doch diese Bestätigung jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Schwer atmend ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke.
Familiengeschichten
S
eit zwei Wochen hatte Oksa ihre Mutter und ihre Großmutter nicht mehr gesehen. Marie Pollock war immer noch bei ihrer Schwester und Dragomira war zum Auskurieren zu Abakum aufs Land gegangen. In dem Haus am Bigtoe Square, das nun plötzlich zu groß für sie geworden war, wohnten nur noch Oksa und ihr Vater.
Die momentane Situation zwang Pavel, seinen Tagesablauf anders zu gestalten als sonst, und er war seltener im Restaurant. Morgens stand er vor Oksa auf und bereitete ihr ein fürstliches Frühstück zu, denn er wollte unbedingt alles richtig machen. Und wenn sie von der Schule kam, war er ganz für sie da. Die Abende verbrachten sie gemeinsam. Obwohl erst Spätsommer war, zündete Pavel immer ein schönes Feuer im Kamin an, und sie saßen zusammen davor, bis es Zeit war, schlafen zu gehen. Er freute sich darüber, wieder am Alltag seiner Tochter teilzuhaben, und sah sich ihre Hausaufgaben interessiert an.
Oksa ihrerseits hatte beschlossen, die Schule sehr ernst zu nehmen – so wollte sie ihren Eltern zeigen, dass sie trotz ihrer Fehler stolz auf sie sein konnten. Und tatsächlich hatte sie auch schon die ersten hervorragenden Noten bekommen.
»Ein Verstand, so scharf wie die Schneide eines Schwertes, dazu eine wahnsinnige Körperbeherrschung – die perfekte Ninja!«, kommentierte Gus ihren Erfolg.
»Ein scharfer Verstand? Wie man’s nimmt«, sagte Oksa. »Bei allem Ärger, den ich mir immer wieder einbrocke!«
Das war natürlich eine Anspielung auf ihre neu erworbenen Fähigkeiten. Wie ihr Vater gesagt hatte, geriet sie in Gefahr, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wenn sie sich ihrer bediente. Das war nicht besonders klug, wie sie bald begriffen hatte. Trotzdem passierte es ihr immer wieder, besonders bei dem Mädchen, das Gus zu nahe kam, wie sie fand. Die ist doch viel zu hübsch, um es ehrlich zu meinen, schimpfte sie in Gedanken.
Als sie Gus wieder einmal mit dieser Heuchlerin erwischt hatte, hatte sie es sich nicht verkneifen können, aus der Ferne einen Knopf an ihrer Bluse wegzusprengen … Das arme Mädchen hatte sich dann schnell davongemacht, um neugierigen Blicken zu entgehen. Gus war empört gewesen.
»Warum hast du das gemacht? Du bist unmöglich!«
»Dieses Mädchen geht mir auf die Nerven. Die treibt sich immerzu in deiner Nähe rum.«
»Sag jetzt bloß nicht, dass du es deswegen gemacht hast, Oksa! Das ist echt daneben von dir! Und wenn es mir gefällt, dass sie sich in meiner Nähe herumtreibt?«
Diese Worte, zusammen mit den Ereignissen der letzten Tage, hatten Oksa ernsthaft zum Nachdenken gebracht. Abends, aufs Sofa vor dem prasselnden Feuer gekuschelt, redete sie mit ihrem Vater, wie sie es nie zuvor getan hatte. Doch das eine oder andere behielt sie für sich, allem voran den besorgniserregenden »Fall McGraw«.
Einmal hatte sie versucht, mit ihrem Vater darüber zu reden, sie erwähnte den Pseudolehrer und die Verbissenheit, mit der er seine Schüler quälte. Doch Pavel hatte ihr gar nicht richtig zugehört, sondern nur gelächelt und gesagt, dass wohl jeder während seiner Schulzeit mindestens einem solchen seltsamen oder fragwürdigen Lehrer begegnet sei. Natürlich hatte er sie damit nur beruhigen und zugleich ermutigen wollen, sich zu wehren und stark zu bleiben.
Ihr Vater bestand darauf, dass sie ihm von ihren magischen Erfahrungen berichtete und sie ihm vorführte. Er war beeindruckt von ihrer ungeheuren Begabung, warnte sie jedoch erneut.
»Du bist sehr talentiert, Oksa. Aber bitte, bitte: Pass gut auf! Ich für meinen Teil habe mich immer gehütet, das einzusetzen. Ich sage ja nicht, dass ich nie in Versuchung geraten wäre, aber ich habe viel zu viel Angst, dass jemand sich dann gewisse Fragen stellen
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