Oksa Pollock. Die Unverhoffte
könnte.«
»Du reißt dich also zusammen, oder?«, fragte Oksa neugierig.
»Nein, das ist nicht nötig. Ich will nur absolut nicht, dass es sich herumspricht, es ist eine Art intuitiver Selbstschutz. Bei dir ist das nicht so, weil du eine Huldvolle bist, und das ist einerseits besser, andererseits schlimmer.«
Pavel sah seine Tochter traurig an. Sein müdes Lächeln betonte seine eingefallenen Züge.
»Hast du deine Kräfte entdeckt, als du in Russland warst, Papa? Da bist du doch geboren, oder?«
»Ja, damals hieß es noch ›die Sowjetunion‹. Genau genommen wurde ich in Sibirien geboren. Als deine Großmutter, Leomido und Abakum aus Edefia flüchten mussten, landeten sie in einer Gegend ohne jede Ähnlichkeit mit dem, was sie bisher kannten. Der nahtlose Übergang von ihrem milden, fruchtbaren und üppigen Land zu diesem kalten und feindlichen Sibirien war grauenvoll, deine Großmutter ängstigte sich zu Tode. Stell dir vor: Erst lebte sie glücklich mit ihren Eltern in einem Land, wo Harmonie und Überfluss herrschten. Dann brach innerhalb von Stunden das Chaos aus, es folgte die Flucht und schließlich Sibirien. Ich nehme an, du hast schon von Sibirien gehört, mein Schatz?«
»Das Land der Gulags? Wo es so viele Gefangenenlager gab?«
Pavel sah sie überrascht und belustigt an. »Das ist nicht das Erste, woran ich denken würde … Aber wir haben eine unterschiedliche Sicht, weil Sibirien mein Heimatland ist. Du hast nicht unrecht, es ist kein Zufall, dass die Gulags dort waren. Man kann Hunderte von Kilometern zurücklegen, ohne einer Menschenseele zu begegnen, nur Tieren und Naturgeistern. Denn dort herrscht die Natur, und sie ist eine wunderschöne und sehr grausame Herrscherin, die über alles, über das Leben und den Tod, bestimmt.
Abakum, die junge Dragomira und Leomido irrten tagelang völlig durchgefroren umher. In Edefia wurde es nicht kälter als zwanzig Grad plus, es schneite nie. Kannst du dir vorstellen, was für ein Schock es für sie gewesen sein muss? Abakum ernährte sie mit Wurzeln, Beeren und den Fischen, die er in den Flüssen fing. Dank des Lichterlohs von Leomido – der Kraft des Feuers – konnten sie sich wärmen, was in einer solchen Gegend lebenswichtig ist.
Einige Tage nach ihrer Ankunft in Sibirien begegneten sie einem unglaublichen Mann, einem sehr mächtigen Schamanen, der in einem kleinen Dorf am Rand eines Waldes lebte. Der Winter kam mit großen Schritten näher. Metschkow, der Schamane, nahm sie bei sich auf und beschützte sie während der harten eisigen Wintermonate. Er hatte vor, sie in eine größere Stadt zu begleiten, wenn es wieder milder wurde.
Abakum und er waren sich bald sehr nah, sie hatten große Ähnlichkeit miteinander. Beide konnten die Pflanzen und Tiere hören, sie verstehen und sich mit ihnen verständigen. Von ihnen beiden lernte Dragomira die Kraft der Pflanzen, sie war eine außergewöhnlich begabte Schülerin.
Als der Frühling kam, war Leomido der Einzige, der sich entschloss, Sibirien zu verlassen. Er durchquerte ganz Europa, ließ sich in England nieder und wurde dort, wie du weißt, ein großer Dirigent. Zwölf Jahre später wurde ich in einem kleinen sibirischen Dorf geboren.«
»Und … dein Vater? Ist es der Schamane Metschkow?«
Pavel lachte leise.
»Nein. Metschkow war über hundert Jahre alt! Mein Vater war sein Enkel. Es war ein hartes Leben, aber bis zu meinem achten Geburtstag waren wir alle sehr glücklich. Dann brach alles zusammen. Der KGB brachte meinen Vater um, und es wurde politisch so schwierig, dass wir unser kleines Dorf und Sibirien schnell verlassen mussten. Abakum kam mit, er hatte Malorane versprochen, für Dragomira zu sorgen, und obwohl sie inzwischen eine erwachsene Frau und selbst Mutter geworden war, hielt er weiterhin Wort.
Es war sehr schwierig für uns, die Sowjetunion zu durchqueren, es war zur Zeit des Kalten Krieges und das Land hatte sich in ein riesiges Gefängnis für seine Einwohner verwandelt. Man kam nur unter Lebensgefahr hinaus … Deine Großmutter und Abakum mussten damals ihre Kräfte sehr häufig einsetzen, aber ich glaube, ohne Leomido hätten wir es niemals geschafft. Er war gerade mit seinem Orchester auf Welttournee, und als er auf Durchreise in Sankt Petersburg war – damals hieß es noch Leningrad –, gelang es uns, aus dem Land zu fliehen.«
»Wie denn?«, fragte Oksa, fasziniert von der Erzählung ihres Vaters.
»Stell dir vor, er hat uns als Mitglieder seines
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