Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Orchesters ausgegeben. Das war sehr gefährlich, und es war ausgesprochen mutig von ihm, dass er es getan hat. Er riskierte alles – die Freiheit und vor allem auch sein Leben. Am schwierigsten war es, eine Lösung für mich zu finden, denn wie sollte man die Anwesenheit eines achtjährigen Kindes bei einem Orchester erklären? Schließlich opferte man ein Cello und nahm mich in einem der Cellokästen mit! Der KGB hat die Kontrabasskästen gründlich durchsucht, in denen sich Erwachsene hätten verstecken können, doch glücklicherweise nicht die viel kleineren Cellokästen. So haben wir es dank Leomido geschafft. Er war ein so gut integrierter Rette-sich-wer-kann geworden …«
»Aber ihr doch auch«, sagte Oksa.
»Nun, meine Integration in die Gesellschaft war ziemlich schwierig. Während der ersten acht Jahre meines Lebens war ich nur von Leuten wie Dragomira und Abakum umgeben, die ihre Kräfte nie verheimlicht haben, und einem Vater, einem Großvater und einem Urgroßvater, die alle drei ganz außergewöhnliche Schamanen waren. Dazu musst du dir ein zurückgezogenes Leben in einem kleinen sibirischen Dorf denken.
Für mich hätte es ewig so weitergehen können … Was ich nämlich danach über die Menschen erfahren habe, hat mich nicht gerade begeistert. Für deine Großmutter und Abakum war es noch schlimmer: Sie haben einundzwanzig Jahre lang in Abgeschiedenheit gelebt! Dennoch ist ihnen der Übergang hervorragend gelungen und ich bewundere sie sehr dafür. Sie haben sich mit großem Geschick und ungeheurer Anpassungsfähigkeit in dieses neue Leben eingefügt, indem sie ihr Umfeld genau beobachteten und das kopierten, was sie sahen. Doch ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ihnen fiel. Ich glaube, Leomido hatte als Einziger begriffen, dass er den kleinen Kreis der Rette-sich-wer-kann verlassen musste, um zu leben wie ein echter Von-Draußen. Er gab bald die Hoffnung auf, nach Edefia zurückzukehren, im Gegensatz zu deiner Großmutter und Abakum, die in gewisser Weise nach der Flucht weiterlebten wie zuvor – außer dass es dreißig Grad kälter war.
Magie, außergewöhnliche Kräfte und unsere Geschöpfe waren Teil unseres Alltags; die Dörfler akzeptierten und respektierten uns so, wie wir waren. Ich war davon überzeugt, dass es auf der ganzen Welt so war wie bei uns. Doch sobald wir Sibirien verließen, mussten wir uns in Acht nehmen und unser wahres Wesen tarnen. Auf einmal mussten wir unsere Gaben um jeden Preis verheimlichen. Das habe ich bald genug am eigenen Leib erfahren …«
»Wie denn?«, redete Oksa dazwischen.
»Leomido hatte unseren Umzug in eine kleine Stadt in den Schweizer Bergen organisiert. Sehr bald meldete Dragomira mich in der Schule an …«
»Bist du dort zum ersten Mal in die Schule gegangen?«
»Nein, in unserem Dorf in Sibirien gab es eine Schule. Außerdem hatten mir meine Eltern eine Menge beigebracht.«
»Und … wie hast du das mit der Sprache gemacht? Du konntest doch nur Russisch, oder?«
»Ah, ich erkenne deinen Sinn fürs Praktische, mein Kind. In der Tat sprach ich Russisch, es war meine Muttersprache. Aber ich konnte auch Französisch, Englisch, Deutsch, Chinesisch, Spanisch und Schwedisch …«
»Was? Du machst dich wohl über mich lustig, Papa!«, rief Oksa.
»Ganz und gar nicht«, widersprach ihr Vater. »Alle Von-Drinnen haben die Fähigkeit des Polyslingua.«
»Was ist das denn?«
»Es ist die Gabe, sich innerhalb kürzester Zeit die Sprache des Landes, in dem man sich befindet, perfekt anzueignen. In Edefia wusste niemand etwas von dieser Gabe, erst diejenigen, die nach Da-Draußen gingen, haben sie entdeckt. Zugegebenermaßen hat uns diese Fähigkeit die Integration sehr erleichtert. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass Mercedica und Leomido völlig akzentfrei Französisch sprechen, obwohl sie nie in Frankreich gelebt und die Sprache nicht gelernt haben. Trotzdem sprechen sie nach wenigen Stunden mit uns genauso gut Französisch wie du und ich. Oder Russisch wie deine Großmutter und Abakum. Oder Finnisch wie Tugdual. Das liegt am Polyslingua.«
»Also werde ich bald so gut Englisch sprechen wie die Königin von England?«, fragte Oksa hoffnungsvoll.
»Vielleicht«, antwortete ihr Vater mit einem Lächeln.
»Das ist ja großartig! Aber du hast mir noch gar nicht erzählt, was in der Schweiz passiert ist.«
»Ach ja, die Schweiz!« Pavel dachte eine Weile nach, bevor er zu erzählen begann: »Es war schrecklich … Ich war die
Weitere Kostenlose Bücher