Oksa Pollock. Die Unverhoffte
aber nicht mehr lange, also musste sie los. Jetzt! Konzentriert schob Oksa den rechten Fuß vor, hatte absolut nicht das Gefühl zu fallen und stellte sich vor, dass sie leicht wie eine Feder hinunterschwebte, bis sie sicher auf dem gepflasterten Boden stand, nur kurz bevor die Schüler alle auf den Hof strömten.
»Du hast mir den Schrecken meines Lebens eingejagt«, flüsterte Gus seiner Freundin ins Ohr. »Ich dachte, ich würde einen Herzinfarkt bekommen! Alles in Ordnung? Wie bist du da rausgekommen?«
Oksa legte die Arme an den Körper und flatterte fröhlich mit den Händen.
»Von da oben?«, fragte Gus fassungslos und sah zum zweiten Stock hinauf.
»Yes, Sir«, bestätigte Oksa mit einem strahlenden Lächeln. »Und schau mal, was ich hier habe!« Sie lüpfte kurz ihre Bluse und zeigte ihm die zusammengerollten Seiten, die in ihrem Gürtel steckten.
Gus pfiff bewundernd durch die Zähne.
»Was heckt ihr zwei da aus?«, fragte Merlin und kam zu ihnen, während er Oksa unverwandt ansah. »Etwa eine Flucht auf dem Luftweg? Die St.-Proximus von oben dürfte tatsächlich ein hübscher Anblick sein.«
»Warum sagt er das?«, raunte Oksa ihrem Freund irritiert zu. »Glaubst du, er hat mich gesehen?«
»Sag so was nicht!«, flüsterte Gus. »Ich darf gar nicht daran denken …« Und in lauterem Ton fügte er hinzu: »Ich glaube, wir sollten so langsam mal gehen.«
»Ich komm gleich nach, ich muss nur noch kurz an mein Schließfach«, sagte Oksa, die die Papierrolle, die an ihrem Bauch klebte, gern loswerden wollte.
Im Unterricht von Monsieur Lemaire versuchte Oksa ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Sie war völlig ausgelaugt von der ungeheuren Konzentration, die sie für den Freiflug aus dem zweiten Stock hatte aufbringen müssen, stand aber gleichzeitig unter Strom. Nun bewirkte die ruhige Stimme des Lehrers einen Ausgleich zwischen diesen beiden extremen Empfindungen und versetzte sie wieder in einen etwas normaleren Zustand.
Wie jeder Unterricht direkt vor den Stunden bei Mr McGraw verging auch dieser viel zu schnell. Nach der Stunde schleppte sich die ganze Klasse übertrieben seufzend in Richtung Mathematikunterricht. Trotz Oksas guter Vorsätze und ihrer Bemühungen, nicht aufzufallen, ging es nur eine Viertelstunde gut.
»Oksa Pollock!«, schrie der Lehrer. »Ist es zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, sofort auf die Erde zurückzukehren? Wir wissen ja, dass du dich für Astronomie interessierst, aber hier und jetzt bist du im Mathematikunterricht, auch wenn das möglicherweise eine herbe Enttäuschung für dich ist. Komm doch an diesen freien Tisch in der ersten Reihe, dann fällt es dir sicher leichter, bei uns zu bleiben!«
Oksa wurde rot bis unter die Haarwurzeln, gehorchte aber. Sie hatte sich ablenken lassen. Als McGraw ihre Gedanken unterbrach, hatte sie gerade überlegt, was wohl in seiner Personalakte stehen mochte.
Was für ein verrückter Tag! Sie warf einen unglücklichen Blick auf den Tisch, den McGraw ihr zeigte, wenige Zentimeter von seinem Pult und dem Podest entfernt: ein so begehrter Platz, dass sich nie jemand dorthin setzte! Kaum saß sie, ging die Klassenzimmertür auf und Monsieur Bontempi trat ein. Alle erhoben sich. Oksa rutschte das Herz in die Hose. Ob ihr Eindringen in das Büro des Rektors bemerkt worden war?
»Könnte ich Sie kurz sprechen, Mr McGraw?«
»Selbstverständlich. Merlin, du übernimmst in meiner Abwesenheit die Verantwortung für die Klasse.«
»Natürlich, Mr McGraw«, antwortete Merlin beunruhigt.
Kaum hatte der Lehrer den Raum verlassen, ging der Lärm los. Zunächst versuchte Merlin, seine Mitschüler noch zur Ordnung zu rufen, indem er darauf hinwies, dass die Verantwortung für die Klasse auf seinen schmalen Schultern lastete. Doch die Gelegenheit, sich auszutoben, wollte sich keiner nehmen lassen. Einige Schüler warfen unter lautem Gejohle Papierkügelchen umher, während andere wilde Verfolgungsjagden um die Tische veranstalteten.
Als Axel Nolan dabei McGraws Aktentasche umstieß, die auf dem Podest stand, keimte ein Gedanke in Oksa: In dieser Tasche befanden sich doch sicher persönliche Aufzeichnungen des Lehrers oder andere interessante Dinge, die Aufschluss über ihn geben würden. Sie nutzte das Durcheinander und tat so, als wollte sie die umgefallene Tasche aufheben, vergewisserte sich dabei, dass niemand zu ihr herschaute, und warf einen verstohlenen Blick hinein. Sofort sprang ihr McGraws Portemonnaie ins Auge. Sie zog es
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