Oktoberfest
Unterarm. Alte Angewohnheit aus Kampfschwimmertagen. Die beiden Anzeigen fluoreszierten. Nördlich halten. Kurs Nordnordwest. Dreihundertzwanzig bis dreihundertvierzig Grad. Er war heilfroh, dass er den Kompass trug.
Zu dumm, dass er keine Flossen bei sich hatte. Dann wäre er viel schneller vorangekommen. Aber er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er Flossen nötig haben würde.
Wo kam das Wasser auf einmal her?
War irgendein Reservoir leckgeschlagen?
Oder hatte es einen Wolkenbruch gegeben, von dem ihnen niemand etwas gesagt hatte?
Mit kraftvollen Zügen tauchte er durch die Röhre. Immer wieder sah er auf die Uhr. Einhundert Meter. Zwei Minuten. Zusätzlich zählte er. Fünfundvierzig Züge.
Hier musste an der Decke ein Zufluss sein. Zu eng, um hindurchkriechen zu können und nach oben zu klettern. Aber dort würde er Luft holen können. Seine Finger tasteten im schwarzen Wasser nach der Öffnung. Er schätzte, er hatte noch für eine Minute Sauerstoff in den Lungen.
Seine Finger verhakten sich in einer Vertiefung. Er zog die Atemmaske über den Kopf, riss ein dreißig Zentimeter langes Stück Schlauch ab und ließ das mittlerweile nutzlose Gerät dann los.
Härter schob den Schlauch durch die Öffnung im Mauerwerk nach oben. Vorsichtig sog er das Wasser aus dem Schlauch und entließ es wieder aus dem Mund. Daumen auf die Öffnung. Dann noch ein Zug. Ein schlürfendes Geräusch. Raus mit dem restlichen Wasser.
Er konnte atmen.
Er begann zu hyperventilieren, um sein Blut mit Sauerstoff anzureichern. Der nächste Abschnitt würde sehr viel länger sein. Zweihundertfünfundzwanzig Meter. Viereinhalb Minuten. Diesmal würde er mehr Luft brauchen.
Wassertretend zog er das Black-Hole-System aus und entledigte sich auch der Zentraleinheit an seinem Gürtel. Dann öffnete er die Klettverschlüsse der Schutzweste und zog sie seitlich unter dem Brustholster heraus.
Funkgerät, Helm, weg damit!
Kein unnötiger Ballast.
Kapitän zur See Wolfgang Härter holte noch mehrmals tief Luft, pumpte sich die Lungen bis zum Bersten voll, stieß sich dann mit beiden Beinen von der Seitenwand ab und glitt wie ein Raubfisch durch die eisige Schwärze des Wassers.
Seinem nächsten Wegpunkt entgegen.
2:28 Uhr
Der Bundesinnenminister war grau im Gesicht und fühlte sich auch so. Er hatte nur kurz geschlafen, als ihn die Nachricht aus München erreichte. Dr. Roland Frühe hatte angerufen und ihn kurz über die Vorgänge in der Kanalisation in Kenntnis gesetzt. Was für ein katastrophaler Fehlschlag! Wie sein Staatssekretär, stand auch der Innenminister momentan unter Schock.
Das konnte einfach nicht sein.
Die Helden von Mogadischu.
Die unbesiegbare GSG 9.
Keiner war zurückgekehrt. Zwanzig Tote. Dr. Frühe hatte veranlasst, dass der stellvertretende Kommandeur, der mittlerweile die Befehlsgewalt übernommen hatte, den Mitschnitt des Funkverkehrs als E-Mail nach Berlin schickte. Der stellvertretende Kommandeur war ohnehin Leiter des Führungsstabes der GSG 9 und konnte die Aufgaben seines getöteten Vorgesetzten sofort übernehmen.
Der Minister hatte die Audiodatei abgespielt. Als er die Geräusche und Schreie hörte, die nach Hartmut Rainers Ausruf »Mine!« zu vernehmen waren, hatte er mit der Übelkeit kämpfen müssen.
Er griff zum Telefon, um sich mit dem Bundeskanzler verbinden zu lassen. Dann überlegte er es sich doch anders und ließ seinen Wagen rufen.
Er überspielte die Audiodatei auf eine CD, schloss den obersten Knopf seines Hemdes, zog seine Krawatte wieder nach oben und verließ sein Büro. Diese schlechte Nachricht wollte er selbst überbringen. Er war nicht der Typ, der Problemen aus dem Weg ging. Er musste sich mit dem Kanzler abstimmen. Auch wegen der Pressekonferenz, die in nicht einmal mehr fünf Stunden abgehalten werden sollte. Sie mussten überlegen, was nun zu tun war.
Dr. Frühe hatte ihm gesagt, dass das Hauptproblem seiner Meinung nach noch nicht einmal in den zwanzig toten Elitepolizisten bestand, sondern in der psychischen Wirkung auf die restlichen Beamten der GSG 9. Einige glühten vor Rachsucht, andere waren vollkommen demoralisiert.
Während er im Fond seines gepanzerten Audi A8 zum Kanzleramt fuhr, blickte er aus dem Fenster. Alles sah aus wie immer. Natürlich. Trotzdem hatte er geglaubt, irgendetwas müsste sich doch auch hier verändert haben.
Die Welt war doch nicht mehr dieselbe.
Als der Wagen vor dem Kanzleramt hielt, wartete er nicht darauf, dass ihm die Tür
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