Oktoberfest
schon länger keine Wahnvorstellungen mehr gehabt und auch keine Panikattacken.
Als er entlassen worden war, war sein Leben aus den Fugen geraten. Komplett. Niemand wollte mehr was von ihm wissen. Er hatte keine Ausbildung und keine Freunde. Die Leute, die er für seine Freunde gehalten hatte, hatten längst andere Bezugsquellen aufgetan. Keiner gab ihm auch nur einen müden Euro als Anschubfinanzierung.
Er hatte es als Hilfsarbeiter versucht. Zuerst im Großmarkt, dann im Schlachthof. Aber Pünktlichkeit war noch nie seine Stärke gewesen. Deshalb war er jedes Mal nach wenigen Wochen wieder rausgeflogen. Er hatte seine Miete nicht mehr bezahlen können und war höchst unsanft auf der Straße gelandet.
Seit drei Jahren schlug er sich nun als Obdachloser durch. Und mittlerweile kam er in dieser Welt ganz gut zurecht. Er wohnte immerhin in der Innenstadt. Unter der Reichenbachbrücke. Tagaus, tagein sah er die Isar fließen und die Menschen ihrem hektischen Tagwerk nachgehen. Dass er auch mal einer von denen gewesen war, deren Autos oben über die Brücke rollten, konnte er sich kaum noch vorstellen.
Wie hielten die Leute das nur aus?
Er stieß von dem billigen Wein sauer auf und kratzte sich zwischen den Beinen. Es goss in Strömen. Doch er saß im Trockenen. War auch schon was wert. Er musste lächeln. Als er hier neu gewesen war, hatte er am Rand schlafen müssen.
Die Plätze am Rand waren längst nicht so gemütlich. Wenn der Wind ungünstig stand, dann trieb er den Regen unter die Brücke. Das Lager wurde nass und klamm. Das konnte ihm nicht mehr passieren.
Mit der Zeit war er in der Hierarchie aufgestiegen und durfte einen der Plätze in der Mitte beziehen. Er war hier inzwischen ein angesehener Mann.
Er wandte seinen Blick vom Regen ab und starrte auf das Wasser des Flusses. Zitternd klebte er die Kippe zu. Dann erhob er sich und ging zu dem Feuer, das er und seine Brüder hier unten die Nacht über unterhielten. Mit einem brennenden Stöckchen zündete er sich seine Zigarette an und inhalierte tief. Er streckte die Arme nach vorne, um seine Hände zu wärmen.
Eine kalte Windböe ließ ihn frösteln.
Sein Blick ging wieder zum Fluss. Im flackernden Licht des Feuers sah er ein dunkles Bündel im Wasser treiben. Langsam wurde es von der Strömung in seine Richtung getragen, bis es schließlich im Kies des Ufers liegen blieb.
Was war das?
Möglicherweise etwas, das man brauchen konnte. Er sah sich um, ob noch ein anderer die gleiche Entdeckung gemacht hatte, aber im Lager war alles ruhig. Er ging auf das Bündel zu.
Noch immer konnte er nicht erkennen, was er da vor sich hatte.
Erneut zuckte ein Blitz über den Himmel und übergoss das vollkommen durchnässte Bündel für Sekundenbruchteile mit fahlem Licht. Jetzt sah er, was da angespült worden war.
Das war ein menschlicher Körper. Genauer: der Rest eines menschlichen Körpers. In schwarzer Kleidung. Beide Arme und ein Bein fehlten. Das andere Bein reichte nur bis zum Knie. Furchtbare Wunden klafften ihn an.
Auf dem Kopf trug der Körper irgendein unförmiges Ding. Er ging noch einen Schritt näher heran. Das war ein Helm. Genauer: der Rest eines Helms. Der Helm war an der Oberseite aufgerissen. Und dem Kopf fehlte ein Teil der Schädeldecke. Blut und Hirnmasse sickerten heraus.
Er stutzte.
Der Schädel bewegte sich. Peter Panuschek blinzelte irritiert. Er war sich sicher, dass der Schädel sich bewegt hatte. Sich ihm zugewandt hatte. Zwei augenlose Höhlen blickten ihn wissend an. Er sah, wie der Schädel ihm zunickte. Der Mund in dem zerschundenen Gesicht verzog sich zu einem boshaften Lächeln.
Der Leibhaftige war gekommen.
Satanas.
Diabolisches Grausen packte ihn mit knöchernen Krallen.
Der dunkle Gewitterhimmel zeigte ihm ein endzeitliches Schreckensbild. Zwischen den Wolken galoppierten die apokalyptischen Reiter, ihre Geißeln schwingend. Der Regen war der Schweiß ihrer Rösser. Und mit den Blitzen fuhr ihr Fürst, der gefallene Engel, auf die Erde nieder.
Jetzt hörte er auch die Stimme.
Tief, viele Jahrtausende alt und unendlich böse.
Er kannte diese Stimme. Die Ärzte hatten ihm damals weismachen wollen, es gäbe diese Stimme nicht. Aber er wusste es besser. O ja, er wusste es besser.
»Ich bin hier«, sagte die Stimme. »Hier, in dieser Stadt. Ich bin gekommen, euch alle zu holen.«
Peter Panuschek rannte schreiend hinaus in den Regen, tanzende Dämonen im Kopf.
*
Neben der Sinn-Uhr trug der Kapitän einen Kompass am
Weitere Kostenlose Bücher