Oktoberfest
weiteren Meter nach vorne. Sein linker Arm war deutlich schwächer als der rechte. Er sah auf den Oberarm. Das Gewebe des Black-Hole-Systems und der darunterliegende Kampfoverall waren zerrissen. Aus einem hässlichen Riss sickerte Blut hervor. Diese Wunde war nicht weiter tragisch. Es sei denn, sie würde sich infizieren. Für Schmerzen hatte er jetzt keine Zeit.
Ein weiterer tiefer Atemzug.
Luft war etwas Wundervolles!
Die merkwürdigen Geräusche wurden lauter. Schäumendes Rauschen. Sprudeln. Was war das? Wasser? Noch ein tiefer Atemzug, dann war er wieder ganz bei sich. Jetzt konnte er in fließenden Bewegungen vorwärtsrobben.
Noch habt ihr mich nicht erwischt. Noch nicht.
Not yet, Kameraden, not yet.
Die merkwürdigen Geräusche steigerten sich zu infernalischem Lärm. Kapitän zur See Wolfgang Härter hob den Kopf. Sein Atem stockte. Eine tosende Wand stürzte auf ihn zu. Er holte tief Luft und krallte sich mit Händen und Füßen seitlich in das Gemäuer der Röhre, um Halt zu finden.
Ohne Effekt. Seine Hände und Füße rutschten wieder und wieder ab. Meter um Meter wurde er rückwärtsgedrückt, bis er schließlich gegen die herabgefallenen Steine der Einsturzstelle prallte.
Dort staute sich das Wasser, stieg an und füllte schnell die ganze Röhre. Zwischen zwölf und vierzehn Grad Wassertemperatur, schätzte der Kapitän. Er holte ein letztes Mal tief Luft.
Mit einem kurzen Knistern gab seine Nachtsichtbrille den Geist auf.
Kurzschluss.
Nur noch kalte Dunkelheit umfing ihn.
Schwarzes Wasser.
*
Seit fünf Minuten hörte Iljuschin nun nichts mehr. Er setzte den Kopfhörer ab und zog sich kurz die Sturmhaube vom Kopf. Die Geiseln konnten in den Gefechtsstand ja nicht hineinsehen. Er strich sich die schweißnassen Haare aus der Stirn.
Das war herrlich gewesen. Nur langsam ließ seine Erregung nach.
Wer auch immer da versucht hatte, an sie heranzukommen, hatte eine gehörige Abreibung bekommen.
Er wandte sich über Funk an Blochin, der irgendwo im Zelt unterwegs war. »Vielen Dank, General, dass Sie mich geweckt haben. Ich weiß das zu schätzen. Und ich kann Ihnen melden, dass der Gegner einhundert Prozent Verluste erlitten hat.«
»Ich habe zu danken, Polkownik Iljuschin. Gute Arbeit!«, hörte er die Stimme seines Kommandeurs.
Iljuschin erhob sich und zog die Sturmhaube wieder über den Kopf. Er wollte jetzt weiterschlafen. Er streckte sich. O ja, er würde gut schlafen können.
Hätte Iljuschin den Kopfhörer noch aufbehalten, hätte er in diesem Moment wieder etwas gehört. Vielstimmiges Piepsen erklang in der Kanalisation.
Man konnte meinen, aus hunderttausend kleinen Nagerkehlen stiege ein gepiepstes Dankesgebet zum Rattengott himmelan – ein Gebet für den so unerwartet reich gedeckten Tisch.
11
G ewitterdonner grollte durch die Münchner Nacht wie Geschützfeuer ferner Gefechte. Bei dem Krach konnte ja keine Sau schlafen. Zumindest nicht hier draußen. Peter Panuschek, von den anderen Stadtstreichern nur Pepe gerufen, saß auf der Kante seiner Bettkonstruktion und sah dem Regen zu. Er zog den zerschlissenen, speckigen Mantel enger um die Schultern. Kalt war es geworden.
Seufzend nahm er einen tiefen Schluck aus seiner Lambrusco-Flasche. Früher hatte man ihn Pillen-Pepe genannt. Was war das für ein Leben gewesen. Sportwagen, First-class-Nutten, Champagner aus Magnumflaschen und Drogen, Drogen, Drogen.
Er war mal eine große Nummer gewesen. Alle hatten bei ihm gekauft. Er hatte sämtliche Diskotheken und Bordelle der Stadt mit chemischen Drogen beliefert. Mit allem, was das Herz begehrt: Pappen, Pillen, Pulver. Ein überaus einträgliches Geschäft.
Dann hatte er einen Fehler gemacht.
Einen schwerwiegenden Fehler.
Drogen an einen Bullen verkauft. Scheißzivilfahnder. Aber der Mann war wirklich gut getarnt gewesen. Freistaat Bayern eben. Top Bullen. Scheiß drauf!
Aus.
Vorbei.
Nicht mehr zu ändern.
Er nahm einen weiteren Schluck und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Seine Hände in den fingerlosen Wollhandschuhen zitterten. Etwas Tabak fiel zu Boden. Er fluchte stumm. Vier Jahre hatte er gebrummt. Für zweieinhalb Kilo. Eine bunte Mischung, ein Feuerwerk der guten Laune, ein komplettes Sortiment: Amphetamine, LSD, MDMA.
Vier Jahre in Stadelheim.
Von dort war er für ein halbes Jahr in die Psychiatrie überstellt worden. Wegen schwerer psychotischer Schübe aufgrund von jahrelangem LSD-Konsum. Die Ärzte da hatten ihn wieder ganz gut hinbekommen. Er hatte
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