Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oktoberfest

Oktoberfest

Titel: Oktoberfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scholder Christoph
Vom Netzwerk:
Seite der verschiedenen Kampfsportarten weckte damals seinen Ehrgeiz. Mehr noch faszinierte ihn die fernöstliche Philosophie.
    Mentale Disziplin.
    Totale Kontrolle des Körpers durch den Geist.
    Seine Mutter war zwar dagegen gewesen, doch mit der Unterstützung seines Vaters hatte er seinen Wunsch durchgesetzt. Nach einer schonungslosen Eingangsprüfung hatten die Mönche ihn als Schüler bei sich aufgenommen. Er hatte sich als würdig erwiesen.
    Zwei Jahre blieb er in China, bevor er seinen Wehrdienst antrat. Und jetzt erinnerte er sich an seinen alten Shifu, seinen Lehrmeister, der ihn drei Monate vor Ende seines Aufenthalts zum Meditieren auf einen Berggipfel des Song-Shan-Massivs geschickt hatte.
    »Du musst dein Mantra finden«, hatte der über achtzig Jahre alte Chinese ihm gesagt.
    Nach drei Tagen ohne Nahrung hatte er zu halluzinieren begonnen. Und die Stimme des Berges hatte ihm sein Mantra offenbart. Jene Worte, die ihn seither im Kampf begleiteten. Jene Worte, mit deren Hilfe er seine körperliche Energie mental fokussieren konnte. Wie ein Repetierverschluss wiederholte sein Bewusstsein die sechs Wörter.
    Luft werden.
    Wind werden.
    Sturm werden.
    In der Meditation vollzog er den Weg zu innerer Harmonie. Yi yu qi he. Er spürte, wie seine Kräfte zurückkehrten. Es war, als zündete durch die totale Konzentration ein innerer Nachbrenner. Energie aus Reservoirs, die sonst nicht zugänglich waren, strömte durch seinen Körper. Seine Muskulatur spannte sich wieder. Das Zittern hörte auf.
    Mentale Disziplin.
    Totale Kontrolle des Körpers durch den Geist.
    Wolfgang Härter stand auf und schüttelte die Kakerlaken ab. Widerspenstige Viecher! Die besonders hartnäckigen wischte er sich mit den Händen von Kopf und Körper. Er sah auf seine Sinn-Uhr. Es war halb vier. Er musste sich beeilen.
    Wenn Dr. Urs Röhli sich noch heute auf den Weg machen sollte, dann blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Mit der rechten Hand hielt er in der Dunkelheit Kontakt zur Wand des Kanals. Gebückt trabte er in Richtung des Ausstiegs. Unter seinen Sohlen starben die Kakerlaken zu Tausenden.
    Nach einhundertzwanzig Metern stieß seine rechte Hand an die stählernen Sprossen der Leiter, die in den Kanal führte, der direkt unter der Straßendecke lag. Er stieg drei Sprossen hinauf, dann ertasteten seine suchenden Finger den Hebel, der die Klappe verschloss. Mit einem einzigen Hieb schlug er den rostigen Griff zur Seite. Die Klappe sprang auf, Wasser rauschte auf ihn herab.
    Der Gestank verschlug ihm den Atem. Der faulige Auswurf der Großstadt schoss ihm in einem Schwall entgegen.
    Diese Klappe trennte das System, das ausschließlich Regenwasser ableitete, von dem System, in dem sich Regen- und Abwasser mischten. Die stinkende Brühe lief ihm über den Kopf und den Anzug, während er durch die Öffnung kletterte. Die Kakerlaken, die noch an ihm hingen, wurden weggespült. Als er in dem oberen Kanal stand, schloss er die Klappe wieder und verriegelte sie mit einem Fußtritt.
    Links von sich konnte er einen schwachen Lichtschein erkennen, der von oben durch einen Gullydeckel fiel.
    Na also!
    Wasser lief durch den Deckel in die Kanalisation. Ein paar Ratten huschten in den Schutz ihrer Verstecke. Er lief dem Lichtschein entgegen. Seine Augen hatten sich an die völlige Dunkelheit gewöhnt. So erschien ihm das wenige Licht, das nach unten drang, hell. Er konnte gut sehen.
    Unter dem Gullydeckel angekommen, stellte er sich breitbeinig hin und fasste das Gitter mit beiden Händen. Vor seinem inneren Auge erschien eine Szene aus dem Film Der dritte Mann . Die Finger von Orson Welles alias Harry Lime, wie sie durch den Gullydeckel griffen. Kurz vor seinem Tod. Eine Jukebox in seinem Kopf begann, leise Zithermusik zu spielen. Er vertrieb das Bild und die Musik und konzentrierte sich.
    Luft werden.
    Wind werden.
    Sturm werden.
    Eine ungeheure Spannung baute sich in seinem Körper auf. Er fokussierte alle Energie auf die Anstrengung, die vor ihm lag. Xin yu yi he. Gefühl und Verstand vereinen sich durch Konzentration zu Kraft.
    Mit einer scheinbar leichten Bewegung hob er den Gullydeckel an und schob ihn zur Seite. Er streckte vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, den Kopf aus der Kanalisation. Die Straßenbeleuchtung erschien ihm unglaublich hell.
    Wo war er hier?
    Er sah kurz auf seinen Kompass. Orientierte sich. Zwei quaderförmige Häuser erhoben sich westlich und östlich von ihm. Kein Mensch weit und breit. Das war auf jeden Fall gut. Es

Weitere Kostenlose Bücher