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Oktoberfest

Oktoberfest

Titel: Oktoberfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scholder Christoph
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vielversprechendsten Germanisten. Ich meine, wissenschaftlich gesehen. Für die damaligen Machthaber war Stern jedoch nur ein Jude. Die Nationalsozialisten haben ihn zunächst furchtbar gedemütigt. Er verlor seine Lehrbefugnis an der Universität. Seine Frau durfte nicht mehr studieren. Schließlich haben sie ihm die Wohnung weggenommen.
    Aber Stern ist nicht emigriert. Er ist in Deutschland geblieben. Es gibt einen Essayband von ihm aus dieser Zeit. Das Büchlein trägt den Titel Kann Deutschland doch nicht im Stiche lassen . Kann ich Ihnen empfehlen. Ergreifende Texte. Davon wollte Professor Stern jedoch nach dem Krieg nichts mehr wissen.« Der alte Archivar brach ab und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.
    »Das ist eine grausame Geschichte. Er hat sie mir selbst einmal erzählt«, sagte er dann langsam.
    Als er fortfuhr, hielt er den Blick gesenkt, als spräche er mit seiner Tasse.
    »Er ist geblieben, weil er Deutschland liebte. Die Literatur. Die Philosophie. Und weil er das Deutschland, das er liebte, nicht diesen dahergelaufenen, uniformierten Kretins überlassen wollte, wie er das selbst ausgedrückt hat. Ist dann 1943 mitsamt seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern deportiert worden.
    Auschwitz.
    Seine Frau und seine Kinder sind dort ermordet worden. Er wurde 1945 von der Roten Armee befreit. Professor Stern wurde damals schwer verwundet. Hat ein Bein verloren. Die wahren Verwundungen saßen jedoch viel tiefer. Doch er hat überlebt.«
    Dr. Ivanov stockte. »Er wurde zu einem der treibenden Männer hinter dem Puteschestwenniki-Programm. Er sah in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre eine Fortsetzung des Nationalsozialismus unter einem demokratischen Deckmantel. Hat bis 1989 Operateure für den verdeckten Einsatz in Deutschland ausgebildet. Hat sie die deutsche Sprache und ihre Eigenheiten gelehrt. Hat mit den Männern sogar Gedichte studiert. Sprichwörter. Unterschiedliche Dialekte und Mentalitäten. Hat sein ganzes Wissen über Deutschland in den Dienst der Speznas-Einheiten gestellt.«
    Wieder machte Dr. Ivanov eine Pause.
    »Ich schätze mal, das war seine Form der Rache«, setzte er dann abschließend hinzu.
    Dr. Röhli nickte. »Das ist bei dieser Biographie auch nur zu verständlich«, sagte er. »Aber ich habe Sie vorhin unterbrochen. Sie wollten etwas anderes sagen. Der Professor wäre mein Mann gewesen. Aber leider …« Er hob fragend seine Stimme.
    »Das ist schon wieder so eine unfassbare Geschichte. Der alte Professor Stern ist vor einem halben Jahr ermordet worden. Im biblischen Alter von vierundneunzig Jahren hat jemand dem Mann die Kehle durchgeschnitten. Unglaublich, oder? Wer tut denn so was?« Der alte Archivar schüttelte den Kopf.
    Jemand, der gute Gründe hat, das Wissen und die Erfahrungen eines ganzen Menschenlebens auszulöschen, wäre es Dr. Röhli beinahe entfahren. Stattdessen schüttelte er ebenfalls den Kopf. »Ja, wirklich, unglaublich.«
    Nach einer Pause fragte er beiläufig: »Nur aus Interesse, wissen Sie irgendetwas Näheres über dieses Verbrechen? Sind die Täter gefasst?«
    »Nein. Die Miliz und die Militärpolizei haben einen ganz schönen Aufstand gemacht. Aber erwischt haben sie niemanden.« Dr. Ivanov hob den Blick und sah seinen Besucher an.
    »Da fällt mir etwas ein. Die Miliz hat mir den Nachlass von Professor Samuel Stern übergeben. Die Ermittlungen sind auf Eis gelegt. Eine offene Akte, wie man so schön sagt. Ich habe das Material hier. Seine gesamte Bibliothek. Wenn Sie das interessieren würde?«
    »Ja, allerdings. Haben Sie auch Teile des persönlichen Nachlasses?«
    »Ich habe alles hier, auch die persönlichen Sachen. Stern hatte keine Angehörigen. Hat nie wieder geheiratet.«
    »Meinen Sie, Sie können mir die Unterlagen von 1967 bis 1984 heraussuchen? Oder sagen wir, bis 1988?«
    »Aber sicher. Nur, was versprechen Sie sich davon?«
    »Ich sagte doch, ich bin auf der Suche nach Zeitzeugen. Vielleicht finden wir eine Liste mit den Namen der Teilnehmer an einem seiner, wie soll ich sagen, Deutschkurse.«
    Vielleicht finden wir sogar Klassenfotos, dachte Dr. Urs Röhli für sich.
    *
    Als die Wagenkolonne des Ministerpräsidenten auf den Marienplatz fuhr, traute der Chef der bayerischen Staatsregierung seinen Augen kaum. Aus dem Fenster seines Wagens sah er auf die ihm wohlbekannte, mächtige Fassade des Rathauses von München.
    Obwohl Jahr für Jahr unzählige Touristen das riesige Gebäude als »wunderbares Mittelalter« bestaunten und

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