Oktoberfest
Ihre Personalien aufgenommen. Dann können Sie nach Hause gehen«, verkündete die Stimme eines Polizeibeamten über die Lautsprecher.
Werner sah Matthias an. »Wurde auch langsam Zeit«, seufzte er erleichtert. Er packte sein Schachspiel ein und steckte die noch halbvolle Schachtel Zigaretten in die Brusttasche seines Hemdes. Dann zog er seine Jacke über und stand auf. Er ließ die Schultern kreisen, um seine Nackenmuskulatur zu lockern, und schüttelte seine tauben Beine aus. Auch Matthias hatte sich erhoben. Gemeinsam reihten sie sich in die Schlange der Wartenden auf dem Gang ein.
Die Türen des Zeltes wurden geöffnet, und alle setzten sich in einer schweigsamen Prozession in Bewegung. Polizisten und Sanitäter hielten immer wieder den erhobenen Zeigefinger vor die Lippen, um die Menschen daran zu erinnern, ruhig zu sein. Langsam schoben sich die Menschen in Richtung Ausgang.
Jetzt, da die Anspannung und die Ungewissheit von ihm abfielen, bemerkte Werner, wie müde er war.
Er gähnte herzhaft. Aber er hatte noch einiges zu erledigen und machte sich in Gedanken eine Liste. Er musste seine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass es ihm gutging. Er musste sich in der Firma nach dem Stand der Dinge erkundigen. Vor allem aber musste er Amelie anrufen. Die konnte ihm bestimmt erklären, was geschehen war. Er hoffte, dass seine Geliebte sich würde freinehmen können.
Danach wollte er lange und heiß duschen und etwas essen. Und zwar ganz bestimmt kein Brathähnchen. Und dann wollte er sich in sein schönes Bett legen und schlafen. Er glaubte, hören zu können, wie sein Bett nach ihm rief.
Werner musste erneut gähnen.
Schlafen, o ja!
Lange schlafen.
*
Kaliningrad, 19:30 Uhr Ortszeit
Das Verhältnis von Oberst Klarow und Dr. Urs Röhli war nur auf den ersten Blick ungewöhnlich. In Geheimdienstkreisen war eine Beziehung, wie sie die beiden Männer verband, häufiger anzutreffen. Beide vermuteten vom anderen, dass er etwas anderes war, als er zu sein vorgab. Beide wussten jedoch nicht genau, was der andere war.
Kennengelernt hatten sie sich während der Tagung der Militärhistoriker, auf der Dr. Röhli auch den Archivar Alexander Ivanov zum ersten Mal getroffen hatte. Oberst Klarow war ihm als Offizier der Miliz vorgestellt worden. Er war für die Sicherheit der Tagungsteilnehmer verantwortlich. Aber vieles deutete für Härter darauf hin, dass Klarow noch andere Interessen als die der Miliz vertrat.
Klarow hatte während der Tagung großes Interesse nicht nur an den Vorträgen über aktuelle Strategien im Kampf gegen den Terrorismus gezeigt, sondern auch an den Plänen zur Reform der NATO, die ein englischer Konfliktforscher in einem für Laien unverständlichen Referat erläutert hatte.
Das war für einen russischen Polizeioffizier sonderbar. Er hatte herausgefunden, dass Klarow früher bei der Militärpolizei gearbeitet hatte.
Wer oder was Klarow jedoch jetzt genau war, hatte Härter nie ermitteln können.
Klarow hatte seinerseits den Schweizer Wissenschaftler – wie auch alle anderen Teilnehmer der Konferenz – überprüfen lassen. Diese Überprüfung hatte im Fall von Dr. Urs Röhli nichts ergeben.
Überhaupt nichts.
Und das weckte bei Klarow, der in der Tat für den Geheimdienst des russischen Innenministeriums, den FSB, arbeitete, ein gewisses Misstrauen. Die Biographie des Schweizers war einfach zu perfekt. Welche Interessen Röhli vertrat, lag für Klarow jedoch im Dunkeln. Er tippte bei Dr. Urs Röhli auf einen nebenberuflichen Nachrichtenhändler. Ein freischaffender Spion.
Sie hatten sich seitdem regelmäßig gesehen. Ob gerade wegen oder trotz der gegenseitigen Verdachtsmomente mochte keiner von beiden sagen. Urs Röhli meldete sich jedes Mal bei Wassilij Klarow, wenn er in Kaliningrad war. Er erkundigte sich stets freundlich nach Klarows Familie. Letztes Jahr hatte er ihm einen Computer für seinen Sohn mitgebracht. Klarow hatte seinerseits gelegentlich in Zürich zu tun. Eine gegenseitige Sympathie konnte keiner von beiden verleugnen.
Ihre Bekanntschaft hatte für beide Seiten Früchte getragen. Ihre Gespräche waren ein mittlerweile eingeübtes, aber dennoch erstaunliches Ritual. Während sie über verschiedene Themen Allgemeinplätze austauschten, flochten sie in Nebensätzen gerne sensiblere Informationen ein, ohne dass einer von ihnen darauf jemals näher eingegangen wäre.
Ein Geben und Nehmen, als ob ein ungeschriebener Vertrag zwischen ihnen bestünde.
Und so war es auch
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