Oktoberfest
Schritt war getan. Die äußere Tür des Benediktiner-Zeltes war offen.
*
Die Küstenlinie war trotz der Dunkelheit mit bloßem Auge zu erkennen. Heller, fast weißer Sand reflektierte das Mondlicht, das immer wieder durch die dahinjagenden Wolkenfetzen fiel. Wo waren sie gelandet? Wohin hatte das Flugzeug sie gebracht?
Noch vor der Brandung stoppte das Schlauchboot seine Fahrt. Der Kerl mit den unsteten Augen sprang mit einem zweiten Mann ins Wasser. Sie zerrten Amelie über die Bordwand.
Die beiden Männer nahmen sie in die Mitte und schwammen mit ihr durch die Brandung. Als sie seichtes Wasser erreicht hatten, setzten die beiden Nachtsichtbrillen auf. Nachdem sie nach eventuellen Beobachtern Ausschau gehalten hatten, hoben sie Amelie hoch. Im Laufschritt ging es über den verlassenen Strand. Rechts von ihnen rotierte der Lichtfinger des Leuchtturms durch die Nacht.
Obwohl es regnete, konnte Amelie die Umrisse einiger vereinzelter Strandkörbe erkennen. Strandkörbe? War das hier etwa die deutsche Küste? Unsinn. Der Flug war viel zu lang gewesen.
Nachdem sie den Strand überquert hatten, erklommen sie die sandige Abbruchkante einer Düne. Amelie fror mittlerweile ganz erbärmlich.
Vor sich sah sie einige schwach erleuchtete Fenster auftauchen. Dann die Umrisse mehrerer kleiner, reetgedeckter Häuser, die sich zwischen die Dünen duckten. Sie hörte den Wind um die Ecken heulen.
Ihr wurde klar, dass sie mit ihrem ersten Eindruck doch recht gehabt hatte. Sie erkannte die charakteristischen Umrisse dieser Häuser wieder. Zwischen solchen Häusern war sie groß geworden. Sie befanden sich in Norddeutschland. Sie waren vermutlich irgendwo auf einer Insel.
Nordsee?
Ostsee?
Sie erreichten den Windschatten eines der Häuschen. Die Tür schwang nach innen auf. Ein Schwall warmer Luft kam ihr entgegen. Amelie wurde in einen hellen, sehr wohnlich eingerichteten Flur gestoßen. Ein Spiegel an der Wand. Eine Kommode davor. Eine Tischdecke, verziert mit maritimen Motiven: Anker, Kompass, Steuerrad. Eine kleine Vase mit Blumen darauf. Daneben ein Mobiltelefon. Ein Mann im schwarzen Overall legte gerade seine Koppel mit Ausrüstung auf der Kommode ab. Grinsend winkte er ihr zu.
Amelies Schritte verursachten klatschende Geräusche. Sie senkte den Blick. Wasser lief an ihrem Schutzanzug herab. Ihre Füße standen in einer größer werdenden Pfütze. Der Boden störte den wohnlichen Eindruck ganz empfindlich.
Der Flur war mit Plastikfolie ausgelegt.
0:12 Uhr
Im Benediktiner-Zelt ging der Bundespräsident von Tisch zu Tisch. Sprach Mut zu. Schüttelte Hände. Lächelte zuversichtlich. Mit seinem ganzen Charisma stemmte sich das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland gegen den dumpfen Fatalismus, der von den Menschen Besitz ergriffen hatte.
Professor Peter Heim war weit über den Punkt hinaus, noch Furcht empfinden zu können. Stattdessen betrachtete er die Gegebenheiten mit der professionellen Distanz eines Wissenschaftlers. Die Situation war für ihn zum Forschungsgegenstand geworden. Sein Verstand analysierte die Zeichenhaftigkeit der Vorgänge, denn die Semiotik war eines seiner Steckenpferde.
Wo zeigten sich hier Index, Ikone und Symbol?
Als eine der inneren Türen des Eingangs sich langsam öffnete, erblickte Professor Heim deshalb nicht Hauptfeldwebel Andreas Kramer, sondern zunächst nur ein zeichenhaftes Phänomen, das der Interpretation bedurfte. Er runzelte die Stirn.
Die Gestalt, die langsam das Zelt betrat, sah aus wie …
Er suchte nach einer kulturell codierten Analogie. Sein Hirn lieferte prompt.
Das war ein lebensgroßes Michelin-Männchen im Tarnanzug.
*
Es war die einzige Idee, die sie hatte.
Es war eine gute Idee.
Das versuchte sie sich zumindest einzureden. Seit Amelie die Idee gehabt hatte, glaubte sie, die Kerle um sie herum müssten ihr ansehen, dass sie etwas im Schilde führte. Sie spürte ihren eigenen Herzschlag beinahe schmerzhaft in der Brust. Bestimmt war sie rot angelaufen. Aber niemand reagierte.
Die Idee war ihr gekommen, als sie das Mobiltelefon auf der Kommode im Flur gesehen hatte. Beim Anblick des schon einige Jahre alten Gerätes war ihr eingefallen, dass sich ihre
SIM-Karte noch immer in ihrer Handtasche befand. Niemand hatte das Päckchen Papiertaschentücher untersucht.
Sie wusste, dass es möglich war, Mobiltelefone zu orten. Wenn es ihr also gelang, ihre SIM-Karte unbemerkt in das Telefon einzusetzen, könnte sie der Polizei einen Hinweis auf ihren
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