Oktoberfest
Heim dachte darüber nach, ob er diesen Terminus für sein nächstes Buch verwenden könnte. Vielleicht sogar als Titel . Die Heimat der Weltgesellschaft . Klang gar nicht mal so übel.
Vom Nachbartisch lehnte sich ein muskulöser Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren herüber und fragte auf Englisch nach der Uhrzeit. Seine Stimme hatte einen starken amerikanischen Akzent.
Peter Heim gab in bestem Akademikerenglisch Auskunft. Es war zwanzig vor sechs. Der Mann vom Nebentisch bedankte sich und prostete ihm zu.
»Auf geht’s zum Prosit der Gemütlichkeit!«, erschallte der Ruf von der Bühne.
»Die Krüge …«, rief der Vorsänger gedehnt und mit ansteigender Stimme.
»Hoch!«, donnerte es ihm aus dem Zelt entgegen.
»Die Krüge …«
»Hoch!«
»Die Krüge …«
»Hoch!«
Während das Ritual seinen Lauf nahm, stellte Peter Heims historisch geschulter Verstand spontan einen Vergleich mit den Nürnberger Reichsparteitagen an. Hier wie da eine riesige Masse von Menschen, die scheinbar ohne Sinn und Verstand einfach nachbrüllten, was ihnen jemand vorsagte. Menschen, die sich an ihrer eigenen Massenhaftigkeit berauschten.
Eine Bedienung trug ein Tablett mit sechs halben Grillhendln an seinem Tisch vorbei.
Im Vergleich zu einem Reichsparteitag der NSDAP war das Oktoberfest jedoch wahrlich völlig harmlos, dachte der Professor. Er schnupperte dem appetitlichen Duft nach. Peter Heim musste schmunzeln.
Das Oktoberfest war ja eher ein »Triumph des Grillens«.
Die Menschen im Zelt hoben die Bierkrüge. Die Kapelle begann erneut zu spielen, und das ganze Zelt sang mit.
»Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit!
Ein Prosit, ein Pro-ho-sit der Ge-müüüüt-lich-keit!«
»Oans, zwoa, drei, g’suffa!« Die Luft im Zelt vibrierte von fünftausend Stimmen.
Tausende von Bierkrügen rasselten aneinander.
»Auf die Heimat der Weltgesellschaft!«, rief Hermanns, und die anderen am Tisch stimmten ein. Es war Viertel vor sechs.
Genau in diesem Moment knackten bei der patrouillierenden Polizei die Funkgeräte. Die Wiesn-Wache meldete sich bei den Patrouillen.
Bildausfall, hieß es.
Schon wieder.
*
Der Mann hatte sich einen Spaß daraus gemacht, eine Schießbude an den Rand des Ruins zu bringen. Jeder Schuss ein Treffer. Den großen Teddy schenkte er einem Kind.
»Wie heißt denn der Bär?«, fragte das Kind mit großen Augen.
Der Mann schaute verständnislos zurück.
»Wie heißt der Bär?«, fragte das Kind nochmals und zeigte dabei mit dem Finger auf den Bären.
Die Züge des Mannes hellten sich auf.
»Boris«, sagte er nickend.
»Boris«, echote das Kind und lächelte. Es sah dem großen Plüschtier in die Augen. »Boris!«, wiederholte das Kind noch einmal, sehr bestimmt. Da rief sein Vater nach ihm. Das Kind wandte sich ab und rannte los, den Bären im Arm. Nach drei Schritten hielt es inne und drehte sich noch einmal nach dem Mann um.
Doch der Mann war nirgends zu entdecken.
17:45 Uhr
Der Mann war pünktlich. Er war zusammen mit den anderen in der schmalen Gasse an der linken Seite des Benediktiner-Zeltes angekommen, als die Lastwagen eintrafen. Insgesamt neunzig Mann von Blochins persönlicher Kompanie waren in den letzten Stunden einzeln oder zu zweit auf das Festgelände eingesickert.
Sie liefen um die Fahrzeuge herum und sammelten sich zwischen den beiden Transportern, die mit gegenüberliegenden Rückseiten in die schmale Gasse eingefahren waren. So waren sie nach außen vor Blicken geschützt.
Die Männer öffneten die Türen der Kühllaster. Mit Spaten gruben zwei Männer eine Röhre frei, die unter der Erde verborgen lag. Ein Schlauch wurde aus einem der Wagen gerollt und mit dem Anschluss verschraubt. Zwei schlossen neben dem verborgenen Rohr ein 2Mbit-Interface an, dessen Kabel ebenfalls im Boden verschwand. Jeder der Männer wusste genau, was er zu tun hatte. Und jedem war klar, es ging um Sekunden.
Acht Männer zogen sich Uniformen des Sicherheitsdienstes vom Benediktiner-Zelt über, dann hasteten sie zu den Eingängen. Der Zugang zum Zelt wurde gesperrt. Sie brachten Schilder an den Türen an: »Wegen Überfüllung geschlossen«.
»Jetzt sind die Zelte schon am Sonntagnachmittag überfüllt«, hörten die Posten einen Besucher sagen, der kopfschüttelnd weiterging.
Blochin nickte Dr. Kusnezow zu, der in einen der Lastwagen gesprungen war. Der Arzt öffnete ein Ventil. Zischend entlud sich der Überdruck mehrerer Gasflaschen in den Schlauch. Die meisten anderen Männer hatten
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