Oliver Hell - Abschuss (Oliver Hells erster Fall) (German Edition)
zuständig war, als sie selber. Daran dachte sie jetzt, als sie das Bild in den Händen Hells sah.
*
Zylau senkte seinen Zeigefinger auf den Messingknopf von Culmanns Klingel. Er hatte ihn damals an einem neutralen Ort abholen müssen, da er nicht mit seinem privaten Wagen zu dem Treffen in der Werkshalle kommen wollte. Doch nun stand er vor seiner Türe. Damals bestand der Ministerialrat darauf, eine Maske zu tragen, damit er nicht zufällig auf einem der Bilder abgelichtet wurde. Sie hatten kein Wort gesprochen, Zylau war gefahren, Culmann saß im Fond seiner Limousine. So wie er es Jahre lang gewöhnt war. Culmann war ein untersetzter, leicht dicklicher Mann mit rotblondem, schon einen Haarkranz bildendem Haar. Culmann hatte nach seinem Rücktritt zurückgezogen gelebt. Er hatte es vermisst die Fäden zu ziehen, aus dem Hintergrund zu agieren. Er erinnerte sich an die Interviews, die er gegeben hatte. Er erinnerte sich daran, dass die Presse immer wohlwollend über seine Person berichtete. Das alles hatte mit seinem Rücktritt ein Ende gehabt. Keiner der Journalisten hatte auch nur einmal bei ihm angeklingelt, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
Keiner hatte so die Chance nutzen können, um vielleicht hinter sein immer gut gehütetes Geheimnis zu kommen. Als Person, die in der Öffentlichkeit stand, hatte er immer sehr aufpassen müssen. Jetzt war er sicherer. Jetzt konnte er seinen Vorlieben nachgehen. Er konnte telefonieren, konnte seine E-Mails selber checken. Alles war einfacher geworden. So hatte er auch Kontakt zu der Gruppe aufnehmen können, ohne dass jemand wirklich wusste, wer er wirklich war. Er verachtete diese Leute insgeheim, weil sie ihm gewöhnlich und brutal vorkamen. Culmann war es in seinem Leben nie gewöhnt, Befehle entgegen zu nehmen. Er war das obere Ende der Befehlskette und war es gewöhnt, dass man nicht lange nachfragte, sondern seine Order minutiös umsetzte. Über ihm gab es nur noch einen Ministerialdirektor und die Minister, unter denen er arbeitete. Er war nie sonderlich beliebt bei seinen Untergebenen. Seine Art mit Menschen umzugehen, war geprägt von einem Gefühl der Überlegenheit. Das ließ er auch alle in seiner Umgebung spüren. Seinen Vorgesetzten gegenüber zeigte er sich immer voll untertänigem Respekt. Was ihn dort extrem beliebt machte. Niemand sah eine Facette seiner Person, die er nicht auch erlaubte. Jahrzehntelang konnte er so ein Doppelleben führen. Bis jetzt. Bis heute.
Als Freddie Zylau an seiner Türe stand und klingelte, schaute er erst hinter der Gardine hervor. Er war sich nicht sicher, meinte aber den Mann zu kennen. Eine Figur aus dem dunklen Teil seiner Persönlichkeit. Noch nie hatte ihn jemand aus der Dunkelheit tagsüber besucht. Keiner hatte das bisher gewagt. Keiner kannte seinen Wohnsitz. Culmann verspürte ein wachsendes Unwohlsein.
Zylau bemerkte ihn nicht. Dann ging Culmann zu seinem Schreibtisch, nahm seine 9-mm-Glock aus der Schublade und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Als er die Türe öffnete, erkannte er den Mann sofort.
„Guten Tag, Herr Ministerialrat, wie geht es Ihnen“, fragte Zylau.
„Guten Tag, ich kann Sie leider nicht mit Ihrem Namen begrüßen. Ich kenne ihn nicht. Was kann ich für sie tun?“ Culmann war ganz der honorige Rentner, den er seit Jahren gerne gab. Die Glock in seinem Hosenbund gab ihm eine scheinbare Sicherheit. Er fragte sich, wie der Mann seine Adresse ausfindig gemacht hatte. Es war immer das Bestreben gewesen, so einer Situation nicht ausgesetzt zu sein.
„Sie dürfen mich hineinbitten, ich denke nicht, dass wir hier draußen auf der Straße sprechen sollten.“ Schon war Zylau zwei Schritte die Treppe hinauf und versuchte Culmann beiseitezuschieben. Doch der wich nicht.
„Ich denke nicht, dass ich Lust verspüre, mich mit Ihnen zu unterhalten, Herr …!“
Zylau wunderte sich über die körperliche Präsenz des alten Mannes. „Ich kann auch auf der Straße über hässliche Details sprechen, wenn sie das wollen, Herr Ministerialrat. Ganz wie Sie wollen.“
Er sprach so laut, dass es durchaus möglich war, jemand aus dem Nachbargarten bekäme etwas mit. Zylau hatte Erfolg damit. Culmann machte ein aufgesetztes freundliches Gesicht. „Kommen Sie doch auf einen Kaffee hinein. Bitte sehr.“ So einfach geht das, dachte Zylau.
Er folgte der einladenden Geste und betrat die Eingangshalle der Culmannschen Villa. Er wurde von einem hellen Marmorboden und vier Meter hohen Wänden
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