Oliver Hell - Das zweite Kreuz
Wissen Sie, was das bedeutet?“, fragte sie wieder mit dem schon bekannten Tonfall. Hochmütig.
„ Ja, das wissen wir. Und unsere Kollegen werden bald hier sein und auf einen Anruf des Entführers warten“, sagte Lea Rosin.
„ Noch mehr Polizei? In meinem Haus? Muss das sein? Nein, das will ich gar nicht.“ Sie nahm das Bild vom Wohnzimmertisch und stellte es wieder an seinem Platz im Regal. Das machte sie mit einer energischen Geste. Als könne sie damit ihren Mann wieder an den Platz zurückholen, an den er gehörte. Doch das ging nicht.
Klauk stand auf, holte sich Rosin zur Seite. „Wir holen am besten sofort einen Polizeipsychologen. Die kackt uns sonst noch ab. So labil, wie sie ist.“ Rosin verließ das Zimmer und tätigte die nötigen Anrufe.
Frau Olbrichs stand am Fenster, schaute immer noch ungläubig. „Es gibt viele Männer, die eine Rado tragen, es muss nicht mein Mann sein.“ Dabei sah sie das erste Mal wirklich betroffen aus, es wirkte echt, nicht gekünstelt. Der Hochmut war verflogen.
Klauk legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie begann zu schluchzen.
„ Dreiviertelstunde. Eher schaffen es die Kollegen nicht bei dem Verkehrschaos“, sagte Rosin, als sie wieder ins Zimmer trat. Klauk nickte.
Frau Olbrichs schaute weiter aus dem Fenster. Sie sah den tanzenden Schneeflocken hinterher. Alles war so schön. Ihr Mann durfte nicht in der Hand von Entführern sein. Nein, nicht an solch einem Tag.
Sie ging herüber zu der Musikanlage und gab den Rachmaninow wieder frei. Sofort dröhnte es wieder los.
*
Seit einer Stunde saßen Julian Hoffmann und ein Kollege nun im Verhörzimmer und redeten auf Mashad Agayer ein. Hell hatte auf die Uhr geschaut, als sie sein Büro verlassen hatten. Hoffmann machte einen sehr netten Eindruck. Was das bestätigte, was auch schon Wendt berichtet hatte. Auch sein eigener Eindruck beim morgendlichen Telefonat war positiv. Sein Kollege hingegen blickte düster, sagte auch nicht viel. Hell war froh, dass er nun den Fall Agayer ein zweites Mal abschließen konnte.
Im Hintergrund liefen die Radio-Nachrichten. Hauptthema war das immer noch anhaltende Verkehrschaos. Hell hörte gar nicht richtig hin.
Da klingelte das Telefon. Klauk war dran. Er berichtete, dass es sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um Karsten Olbrichs auf dem Foto handelte. Die Kollegen, die sich mit dem Abhören von Telefonaten auskannten, was nicht jeder in der KTU beherrschte, waren auf dem Weg. Ebenso sei ein Psychologe angefordert worden, weil die Frau des Entführten einen instabilen Eindruck gemacht hatte. Er hatte den Eindruck, dass eine weitere Befragung der Frau zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn machte. Sie würden noch das Eintreffen der KTU abwarten und eventuell ebenfalls nach schon eingegangenen Drohbriefen suchen, von der die Ehefrau nichts wusste. Hell segnete das ab.
Jetzt war es Fakt. Sie hatten eine Entführung. Irgendetwas sagte ihm, die leise Hoffnung, es würde sich um eine stinknormale Entführung handeln, würde sich bald in Luft auflösen. Er griff zum Telefon und rief Gauernack an.
Jakob Gauernack hatte seit Anfang Januar eine Frau als Vorgesetzte. Brigitta Hansen. Als wäre das nicht genug, hatte er sich zu allem Überfluss noch die Grippe eingefangen. So dachte er jedenfalls, als er nun Hell an der Strippe hatte, der ihm etwas von einer Zigarrenschachtel, einem Foto und einer möglichen Entführung erzählte.
„ Gibt es denn eine Lösegeldforderung?“, fragte er schniefend.
„ Nein“, sagte Hell wahrheitsgemäß, „Aber Klauk ist sich sicher, dass die Armbanduhr, die der Mann trägt, dieselbe Armbanduhr ist, wie auf dem Bild mit den gefesselten Händen zu sehen ist.“
„ Das ist alles? Eine Ähnlichkeit? Ihnen ist klar, dass das nicht ausreicht, Kommissar Hell.“
Hell legte den Kopf zur Seite. So etwas hatte er beinahe befürchtet, vielleicht sogar erwartet.
„ Herr Staatsanwalt, ein Mann ist verschwunden. Da ist es doch unsere Pflicht …“ Doch Gauernack unterbrach ihn rüde. „Was ihre Pflicht ist, das wissen Sie sehr gut. Sie müssen Fälle lösen. Fälle. Keine verschwundenen Männer suchen. Dafür haben wir die Streifenpolizei. Oder?“
Hell schluckte die passende Antwort herunter. „Wie sie meinen, Herr Staatsanwalt.“
„ Wenn wir jedem frustrierten Ehemann hinterherlaufen, der sich mal ein paar Tage Auszeit von seinem keifenden Ehekrüppel nimmt, dann hätten wir keine Zeit für die wichtigen Fälle“, schniefte er und bekam
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