Oliver Hell - Das zweite Kreuz
ihn nicht. Sie lebten seit Jahren nebeneinander her, ohne große Berührungspunkte. Der einzige Berührungspunkt war das gemeinsame Abendessen.
Seine Frau war seit Jahren in psychologischer Betreuung. Depressionen. Es kümmerte ihn nicht. Olbrichs platzte vor Selbstzufriedenheit. Sein Leben drehte sich um ihn. Einzig um ihn. Er hatte alles im Griff. Sein bisheriges Leben, sowie auch seine Zukunft sah er unter seiner Kontrolle.
Bis heute. Jetzt war alles anders. Auf dem kalten Boden liegend war er nur noch ein armseliges Bündel. Verschnürt, seiner mickrigen Macht beraubt. Auf Gedeih und Verderb einem Fremden ausgeliefert, dessen Motive er nicht zu erkennen vermochte. Gerne hätte er seine momentane Situation gegen die Tiraden seiner Frau getauscht, ihr ewiges Gemecker ertragen. Sein Essen genossen. Trotzdem. Weil er es gewöhnt war.
Und jetzt? Das erste Mal dachte er mit Sorgen an seine Frau. Was würde sie tun? Was würde mit ihr passieren? Trotz allem war er ihr einziger Halt. Das Schicksal hatte es für richtig befunden, ihre Wege sich kreuzen zu lassen. Das Schicksal hatte ihn nun in der Hand. Und seine Frau ebenfalls.
Plötzlich zuckte er zusammen. Ein Geräusch. Erst ein Surren, dann ein leises Brummen. Er versuchte, das Geräusch zu orten. Es kam von der Decke. Mit dem Geräusch kam ein Luftzug. Ein Ventilator oder eine Klimaanlage. Es wurde kühler. Unmerklich.
In der Raumecke gegenüber befand sich eine Kamera. Infrarot. Mit einem sehr leisen Motor ausgestattet, konnte man damit den ganzen Raum übersehen. Kaum jemand hätte das leise Geräusch des Motors gehört. Trotzdem übertönte der Ventilator noch das Surren der sich bewegenden Kamera.
Vorsicht.
Der Entführer war vorsichtig. Jedes Mal, wenn er die Kamera benutzte, stellte er kurze Zeit vorher den Ventilator an.
So war es auch jetzt. Es gefiel ihm, was er sah. Olbrichs lag beinahe immer noch dort, wo er ihn abgelegt hatte. Emotionslos schaltete er die Kamera wieder aus. Er hatte noch Arbeit vor sich. Nicht mehr heute, aber er würde früh aufstehen müssen. Sehr früh.
*
Als Lea Rosin morgens aufwachte, saß Mashad Agayer schon im Verhörraum bei der Frankfurter Kripo. Julian Hoffmann und ein Kollege vom LKA bereiteten sich auf das Gespräch vor.
Rosin war froh, dass alles so ausgegangen war. Agayer hatte mit ihr gespielt. Ihre Angst gegen sie verwendet. Auch wenn er ihr kein Leid zufügen wollte, so war sie doch ärgerlich darüber, dass er eine solche Macht über sie gehabt hatte. Nein, er hatte sie nicht ins Wanken gebracht. Nur ein wenig. Aber nicht schlimm sagte sie sich.
Sie lächelte kurz. Dann lies sie den Opel Insignia an. Es hatte nur ein wenig geschneit diese Nacht. Die Scheibenwischer fegten den Pulverschnee in einem Bogen zur Seite. Als sie losfuhr, wehte der restliche Schnee wie eine Fahne hinter ihr her.
Vor den Fenstern des Präsidiums tanzten Schneeflocken. Hell schaute ihnen hinterher. Ruhe. Es war noch dämmrig, trotzdem es schon halb neun war. Er rieb sich über die Stirn. Heute würde ein Tag sein, an dem er sich genüsslich um seine Ablagen kümmern konnte. Solche Tage waren selten. Gauernack hatte sie eingebremst. Die mysteriöse Entführung blieb in der Schublade. Er wollte es so. Also hatten sie keinen aktuellen Fall zu bearbeiten.
Klauk saß nebenan. Pro forma fertigte er ein Protokoll der gestrigen Untersuchung im Hause von Karsten Olbrichs an. Er hatte Hell gefragt, und der hatte es ihm zugestanden.
Als Rosin ins Büro kam, beschäftigte sie sich ebenfalls mit ihren Akten. Natürlich war ihr Stapel nicht üppig. Daher nutzte sie die Zeit und arbeitete den Stapel von Meinhold gleich mit ab.
So saßen sie alle die Stunden bis zur Mittagszeit. Die Stille wurde einzig von den Niesanfällen Klauks unterbrochen, gefolgt von einem genuschelten „Scheiße, ich habe es gewusst!“ So wie es schien, hatten die paar Stunden ausgereicht, sich bei Meinhold anzustecken. Rosin amüsierte sich köstlich darüber. Er biss die Zähne aufeinander, versuchte die Nieser zu unterdrücken. Dabei machte er ein dermaßen gequältes Gesicht, dass Rosin laut losprustete vor Lachen.
Hell saß in seinem Büro und strich sich gedankenverloren über die Narbe auf seiner Stirn. Seine Gedanken kreisten. Was war, wenn Gauernack sich irrte?
Klauk hatte ihm das Protokoll auf den Tisch gelegt. Er fand es, nachdem er sich einen Kaffee aus dem Automaten geholt hatte. Vorsichtig öffnete er den Ordner. Während er das Protokoll las, formte
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