Oliver Hell - Das zweite Kreuz
sich vor seinem Auge ein Bild der Verhältnisse im Hause Olbrichs. Vor allem wunderte ihn eine Tatsache: Niemand hatte in der Zeit, wo die Beamten sich in ihrer Wohnung befunden hatten, angerufen. Es gab keine Lösegeldforderung. Bis zur Stunde gab es keine. Das sprach gegen eine Entführung.
Wirklich? Nein. Es sprach gegen eine Entführung, die aus Habgier motiviert war. Wieder fuhren seine Gedanken Karussell. Oliver Hell hasste nichts mehr, als wenn sein Gespür nicht beachtet wurde. Gauernack hatte sein Gespür ignoriert. Mal wieder. Es war für Hell schwierig, das Denken zu lassen. Gauernack dachte bloß an seine Scheißkarriere. Nichts weiter. Bloß an seine Karriere.
„ Was gibt’s zu essen heute?“ Rosin platzte mit der Frage mitten in Hells Gedanken. Er fuhr zusammen.
„ Was? Ist es schon so spät?“, fragte Hell.
„ Nein, noch nicht, aber wir könnten mal zusammen essen gehen. Ich meine, natürlich nur, wenn sie wollen, Chef.“
„ Ja, natürlich“, antwortete er und überlegte kurz, wann sie das letzte Mal Zeit für ein richtiges Mittagessen gehabt hatten. Das war sicher schon ein halbes Jahr her. Weit vor der Zeit, als Rosin ins Team kam. Solche unbekümmerten Tage waren selten.
„ Sagt mir bitte Bescheid, wenn ihr geht, ja?“, rief er noch Rosin hinterher.
Andere Beamte hatten so einen geregelten Mittagstisch jeden Tag. Doch bei der Kripo war so etwas nicht die Regel.
Als sie sich zum Mittag draußen vor der Türe trafen, wehte ein eisiger Wind. Hell holte kurzentschlossen den Mercedes aus der Tiefgarage und sie fuhren in die Innenstadt. Genauso gut hätten sie laufen können, denn das Restaurant war Luftlinie keinen Kilometer entfernt. Sie parkten im Parkhaus unter dem Münsterplatz. Von dort aus waren es nur einige Schritte bis zur Bonngasse und dem Restaurant „Im Stiefel“.
Als sie nach einer Stunde wieder im Präsidium ankamen, hatte Klauk den Auftrag, sich ein wenig im Leben von Karsten Olbrichs umzuhören. Rein informativ natürlich. Hell nahm ihm das Versprechen ab, dabei diskret vorzugehen. Keine Silbe durfte zu Gauernack gelangen. Klauk war froh über den Auftrag. Aktenordnen war nicht nach seinem Geschmack. Im Dunkeln recherchieren, das war eher nach seinem Geschmack. Rosin durfte ihn unterstützen, wenn sie wollte. Das hing natürlich von Olbrichs Leben ab. Wenn sich eine interessante Spur ergäbe, dann würde sie ihm helfen. Bis dahin wollte sie weiter den Stapel auf dem ehemaligen Schreibtisch von Meinhold bekämpfen. Jetzt war es ihr Schreibtisch. Und er war ihr entschieden zu voll. Auch dachte sie, Klauk würde sicher Bescheid geben, wenn er ihre Hilfe benötigte.
Es war ein Dienstag, der sicher nicht in die Polizeigeschichte eingehen würde. Doch lag auch an diesem Tag schon etwas in der Luft, was in den nächsten Tagen für jeden im Präsidium spürbar sein würde.
Dabei handelte es sich nicht um die Gerüchte, die seit einigen Tagen immer intensiver kursierten. Das Gerücht besagte, dass die Kriminalpolizei mitsamt ihren ganzen Akten und Asservaten auf die andere Rheinseite umziehen sollte. In ein größeres Gebäude, mit mehr Platz und größeren und schöneren Büroräumen. Jeder Mitarbeiter würde ein eigenes Büro erhalten. Sofern er es wollte. Es gab natürlich auch die Möglichkeit, nach Teams geordnet, die Büros zu beziehen. Hell hatte es schon vorher gehört, doch dem Getratsche keine Bedeutung beigemessen. Doch nun hatte er es erneut von jemandem gehört, der es sicher wissen musste. Von der Sekretärin der neuen Oberstaatsanwältin. Diese Quelle war sicher. Doch der Zeitpunkt war noch nicht definiert.
Hell befiel ein wenig Melancholie bei dem Gedanken. Immerhin hatte er die letzten fünfzehn Jahre in diesem Gebäude verbracht. In den letzten Jahren war es mehr seine Heimat gewesen, wie sein Haus. Wie viele Nächte er hier verbrachte, weil er nicht mehr nach Hause fahren wollte, konnte er gar nicht mehr zählen.
Spät am Nachmittag schlich Klauk mit einigen Zetteln in der Hand in sein Büro.
Ohne dass Hell etwas gesagt hätte, fing er an. „Olbrichs ist Jahrgang 1948. Er hat in dem Beerdigungsinstitut seine Lehre gemacht, war später dort angestellt. Seine Schulbildung ist mittlere Reife, ein Studium konnte sich seine Familie nicht leisten. Nachdem der Besitzer des Beerdigungsinstitutes in Pension ging, hat er das Institut übernommen. Er holte sich einen Schreiner in den Betrieb, der dafür sorgte, dass der Umsatz für die Särge auch gleich im
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