Oliver Hell - Das zweite Kreuz
eine Untersuchung im Labor.“
Klauk hatte die ganze Zeit den Kollegen zugehört und dabei auf die Karte an der Wand geschaut. Erst ohne großes Interesse. Kannte er doch die Koordinaten, die er selber eingetragen hatte. Dann bemerkte er, dass jemand den vierten Punkt bereits eingetragen hatte. Seine Augen verengten sich. „Seht ihr das?“, rief er plötzlich und sprang auf. Er drängte sich vorbei an Wendt, der wie ein Schuljunge mit seinem Stuhl kippelte. Er landete wieder auf allen vier Stuhlbeinen, als Klauk ihn unsanft nach vorne drückte. Sein Blick folgte dem Kollegen.
„ Hier“, rief Klauk, als er die Karte erreichte, „Es ist ein Kreuz. Seht ihr?“
Er zeigte auf die Koordinaten, verband sie mit schnellen Bewegungen miteinander. Alle verstanden, was er verdeutlichen wollte.
„ Kannst Du das genau ausrechnen?“, fragte Hell.
„ Ja. Es ist irgendwo in der Nähe der Godesburg“, sagte Klauk und schaute noch einmal genauer hin, „Nein, genau auf dem Friedhof dahinter. Wie heißt der noch gleich? Burgfriedhof? Die beiden Linien treffen sich auf dem Burgfriedhof.“ Er tippte wie ein Wilder mit dem Zeigefinger auf die Karte. Seine Augen leuchteten.
„ Keiner weiß, ob uns das weiter bringt. Aber bei einem Täter, der so akribisch arbeitet, lässt es darauf schließen“, sagte Hell. Die wachsende Unzufriedenheit wich aus seinem Blick. So etwas wie gedämpfter Optimismus trat an ihre Stelle. Hatte Klauk Recht, so befand sich am Kreuzpunkt der Linien womöglich ein neuer Hinweis.
Hell ordnete an, dass das ganze Team diesmal an den Ort fahren würde. Acht Augen sahen mehr als zwei.
*
Dunkle Wolken zogen vor dem Fenster auf. Es würde sicherlich bald beginnen zu regnen. Sven-Ferdinand Walters stand am Fenster im Krankenzimmer seiner Schwester. Sie war bei einer Untersuchung. Man hatte ihm gesagt, sie hätte heute einen schlechten Tag. Die Nachricht vom Tod ihrer Mutter hatte ihren ohnehin schlechten Zustand noch verschlimmert.
„ Es kann sein, wir verlieren ihre Schwester“, hatte der behandelnde Arzt gesagt.
Sven-Ferdinand hatte darauf so getan, als verstünde er die Worte des Mediziners nicht.
„ Ich verstehe Sie nicht“, sagte er leise.
Die Stirn des Mediziners legte sich in Falten. Man konnte sie zwischen der dickumrandeten Brille und dem dunklen Haarschopf noch soeben erkennen.
„ Ihre Schwester taucht momentan noch häufig in die reale Welt ein. Haben wir Pech, so werden diese Zyklen kurzfristiger. Was ich damit sagen will, es kann sein, sie wird eines Tages den Bezug zur Realität verlieren.“
Er gab sich Mühe, keine Fremdworte zu benutzen, in dem Wissen, dass die meisten Menschen sie nicht verstanden und nachfragen würden.
Walters hätte sie verstanden. Er hätte auch die Fachtermini verstanden, wenn der Arzt sie benutzt hätte. Seitdem seine Schwester sich in diesem Zustand befand, hatte er sich damit beschäftigt. Keiner konnte sagen, wodurch dieser Zustand ausgelöst wurde. Emilie Walters litt unter Realitätsverlust.
Realitätsverlust bezeichnet die Unfähigkeit eines Menschen, das eigene Handeln mit der Objektivität der realen Welt und der Denkweise seines Umfeldes in Einklang zu bringen.
Es dauerte eine Weile, bis er es bemerkte. Emilie wurde immer verschlossener. Sie wollte nicht mehr an den gemeinsamen Treffen der Familie teilnehmen. Einen Grund dafür gab sie nicht an. Seine Mutter war es, die ihn zuerst darauf ansprach.
Aufgelöst hatte sie ihm am Telefon berichtet, Emilie hätte sich geweigert, an der Geburtstagsfeier ihres Vaters teilzunehmen.
Er rief daraufhin abends bei seiner Schwester an und fragte sie nach dem Grund.
Ihre Antwort war knapp und präzise. „Ich setze mich nicht mit einem Verbrecher an einen Tisch.“
Sven-Ferdinand Walters war durch diesen Satz wie vor den Kopf gestoßen. Sein Vater sollte ein Verbrecher sein? Wie kam seine rational denkende Schwester auf so etwas?
„ Emilie, was reimst Du dir da zusammen? Das entbehrt doch jeder Grundlage“, antwortete er.
Sein Vater und seine Schwester hatten manche Auseinandersetzung gehabt. Sie waren wie Feuer und Wasser. Walters Senior war ein angesehener Arzt. Nichts war ihm fremder als freigeistliches Denken. Seine Tochter hingegen war das genaue Gegenteil. Seit frühester Kindheit hatte sie sich humanistischen Lehren hingegeben. Die Schriften von Sartre, Heidegger und Fromm hatte sie schon als Teenager verschlungen.
Schließlich hatte sie sich nach dem Abitur zum Studium der Soziologie
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