Oliver Hell - Das zweite Kreuz
im Müll zu wühlen, dann war es dem Entführer sicher auch zuwider.
„ Verdammt! Was willst Du uns sagen?“, fluchte Wendt laut. Er drehte sich um sich selbst.
„ Denk nach, was gehört hier nicht hin?“
Wieder ein Selbstgespräch. Er kommt von irgendwohin hierher. So wie immer. Er hat etwas dabei. Er legt es ab. Muss er es ablegen? Was ist, wenn er etwas anders macht als zuvor? Er hatte seine Gewohnheiten bereits geändert. Er schaute vom Boden die Rückwand des Gebäudes entlang. Sein Blick fiel auf etwas. Sofort rannte er los.
Fünf Minuten später wählte er Hell über Kurzwahl.
„ Hör zu Chef. Er hat etwas an die Wand des Restaurants gesprüht. Ich habe den Besitzer gefragt, das ist erst seit heute dort. Er traut sich echt was.“ Wendt war bereits auf dem Weg zu seinem Mazda.
„ Was hat er gesprüht?“, fragte Hell.
„ Nur eine Zahl Chef. Achtundvierzig.“
„ Was bedeutet das? Ein Ultimatum?“
„ Nicht einen Schimmer. Möglich wäre es. So langsam muss er ja mal etwas fordern. Wir müssen auf jeden Fall überprüfen lassen, wie lange die Farbe schon an der Wand ist. Vielleicht hat sich der Besitzer auch getäuscht, und diese Zahl ist schon länger dort. Ich habe die Tonnen untersucht, es gibt keine Sprühdose. Die hat er sicher mitgenommen. Aber man soll ja nie die Hoffnung aufgeben, dass er mal einen Fehler macht, oder?“
Hell rutschte nervös auf seinem Stuhl nach vorne. „Ich vermute, er macht keinen Fehler. Wir kommen erst dann hinter das Geheimnis, wenn er es zulässt.“ Er drückte Wendt weg und wählte die Nummer der KTU. Nachdem es mehrmals geklingelt hatte, hörte er eine vertraute Frauenstimme.
„ Habt ihr noch jemand, der den Ort mit den letzten Koordinaten untersuchen kann?“
„ Ja, sicher. Ich kann das tun.“
„ Gut. Es werden aber mehrere Ermittler gebraucht. Das Gelände muss schnell großflächig abgesucht werden. Es geht auch darum, die Mülltonnen der Gegend nach einer Sprühdose abzusuchen.“
„ Auch kein Problem. Ich treibe schon genügend Kollegen auf“, sagte sie vollmundig.
„ Ok, wir hören uns später.“
Hell drückte bei der Ermittlung aufs Tempo. Er wusste, dass die Tatortermittler alle Hände voll zu tun hatten. Dennoch mussten sie langsam Gas geben. Er machte sich einige Notizen auf einem Zettel. Dabei bemerkte er, wie seine Backenmuskeln arbeiteten. Er machte seinen Mund weit auf, entspannte die Muskeln. Dann nahm er das Telefon und rief Staatsanwalt Gauernack an.
*
Seit Stunden schon lief der Ventilator an der Decke. Die versteckte Kamera in der Raumecke beobachtete das Geschehen. Unbemerkt. Die drei Menschen hatten ihre Furcht über Bord geworfen und begonnen sich bemerkbar zu machen. Er hatte diese Tatsache mit Genugtuung registriert. Am liebsten hätte er ihre Gehirnströme aufgezeichnet in dem Moment, wo ihnen klar wurde, wer die anderen Mitgefangenen waren. Mittlerweile war er sicher.
Sie wussten es.
Zumindest Olbrichs hatte Kontaktversuche unternommen. Als ein mögliches Resultat davon, begann Rosalie Lindemann zu weinen. War ihr klar, dass nach über zwanzig Jahren ihr Spiel zu Ende war?
Irgendwie war es skurril zu erleben, wie diese drei Menschen jetzt in seiner Gewalt waren. Skurril daran war die Tatsache, sie dabei zu beobachten, wie sie mit ihren Fesseln und Knebeln versuchten, zu sprechen. Wie sie an ihren Handschellen zerrten, sich verletzten. Sollten sie nur. Von ihnen ging keine Gefahr mehr aus. Sie waren in seiner Gewalt. So lange, bis er ihre Marter beenden würde. Die Befriedigung, die er bei ihrem Anblick spürte, empfand er jedoch als belanglos. Viel nichtiger, als er es sich in all der Zeit der Planung versprochen hatte. Dort unten im Keller lagen drei alte Menschen, die in nicht allzu langer Zeit sowieso sterben würden. Sollte er nachhelfen? So wie er es geplant hatte?
Er war sich nicht mehr sicher. Er könnte sie ihrem Schicksal dort unten in dem Verlies überlassen.
Es war ihm möglich, einen langen Urlaub zu buchen. Zeit spielte jetzt keine Rolle mehr. Bis er wieder zurückkehrte, hätte die Natur ihm die Aufgabe des Tötens abgenommen. Sie wären jämmerlich verdurstet. Qualvoll. Es wäre nur gerecht. Keiner mehr würde sich jemals vor ihnen fürchten müssen.
Doch von anderer Seite hatte er etwas zu befürchten. Das machte ihm Kopfzerbrechen. Er stellte den Plattenspieler an, setzte die Kopfhörer auf.
Nachdenken. Es gab jemand, der ihm noch einen Strich durch die Rechnung machen konnte.
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