Oliver Hell - Das zweite Kreuz
nicht lange mit der Antwort.
„ Meine Schwester ist eine humanistisch geprägte Soziologin. Aber sie ist auch durch und durch Empirikerin. Ihr macht man so leicht nichts vor. Wenn man sie so tiefgreifend erschüttern kann, dann bin ich geneigt zu glauben, dass ihr jemand etwas vorgelegt hat, was unumstößlich ist.“
„ Was wollen Sie damit andeuten?“, fragte der Arzt.
„ Es fällt mir schwer es zu sagen, aber ich bin mir sicher, dass meine Schwester etwas Fürchterliches weiß, was sie so quält. Seitdem mein Vater als entführt gilt, zweifele ich nicht mehr daran, dass bei ihm etwas im Verborgenen liegt.“
„ Was denken Sie genau, Herr Walters?“
„ Ich möchte mit meiner Schwester reden. Unter vier Augen. Ich möchte sie fragen, wer ihr so ein Leid angetan hat. Ich meine, wer ihr was erzählt hat und wo seine Beweise dafür sind.“
Der Psychologe schwieg.
Er war unschlüssig, was er tun sollte. Der Versuch konnte nach hinten losgehen. Es war seine Maxime, immer das in Angriff zu nehmen, was dem Schaden für den Patienten in Grenzen hielt. Hier konnte er keine Prognose abgeben. Was war im Moment am wichtigsten? Er hatte die Verantwortung für seine Patientin. Hatte der Bruder allerdings Recht, dann konnte sich eine rasante Verbesserung einstellen. Alles war unklar.
„ Gut, aber wenn Sie bemerken, dass sie sich unwohl fühlt, bitte ich Sie, das Gespräch sofort zu beenden“, sagte er und ging in den Flur hinaus. Er klopfte an die Türe, wo sich Emilie Walters befand und versprach ihr eine Überraschung.
Eine Minute später trat sie hinter ihm in ihr Zimmer. Als sie ihren Bruder sah, verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck. Der setzte sich auf den Besucherstuhl.
„ Hallo Emilie, schön dich zu sehen“, sagte er mit ruhiger, weicher Stimme.
*
N50° 41‘ 08‘‘ E07 08‘ 56‘‘
Hell fuhr in Rosins Insignia mit. Ebenso Wendt und Klauk. Ihn beschlich ein wachsendes Unbehagen. Sie näherten sich gerade dem Bad Godesberger Friedhof. Dieser Friedhof lag direkt neben der Godesburg. Auf dem Stadtberg. Die Straße hinauf zur Burg war steil. Vor der Abzweigung, die nach rechts den Berg hinaufführte, stand eine Ampel. Sie mussten warten.
„ Vielleicht haben wir gleich ein neues Puzzleteil, was uns weiterführt“, sagte Rosin in die Stille hinein. Ihre Hand lag auf dem Handbremshebel.
„ Wenn uns ein Toter weiterhelfen würde, das wäre ja mal wirklich ein ganz neuer Aspekt der Fallaufklärung“, sagte Wendt.
Klauk lachte. Hell blieb in seinen Gedanken versunken.
„ Ich fahre heute noch zu Christina. Kommt einer von euch mit?“, fragte Rosin. Sie löste die Handbremse und hielt den Opel mit der Kupplung auf der Stelle. Die Ampel sprang auf grün. Sie gab Gas.
„ Nein, sorry. Ich habe Training“, antwortete Wendt.
„ Wow. Was trainierst Du denn?“, fragte Klauk spitzfindig.
„ Ich gehe laufen.“
„ Oh, das klang eher nach einem Mannschaftssport.“
Sie bogen auf den Parkplatz unter der Godesburg ein. Der Parkplatz war voll. Rosin stellte den Insignia auf der Fläche ab, die für Busse vorgesehen war.
„ Nein, es ist kein Mannschaftssport. Ich trainiere alleine.“
„ Und was ist mit dir, Sebi?“
„ Ich komme gerne mit. Aber es ist davon abhängig, was sich hier noch ergibt.“
Sie stiegen aus. „Chef. Und sie?“
„ Ich habe heute Abend etwas mit meinem Sohn vor. Tut mir leid, Lea. Grüßt sie von mir.“
Als Hell den Insignia verließ und seine Füße auf das Pflaster stellte, hatte er die Frage seiner Kollegin schon vergessen. Er war ganz Ermittler.
„ Wer von euch beiden ist denn jetzt derjenige, der uns zum Puzzleteil führt?“, fragte er seine männlichen Kollegen.
Klauk zückte sofort sein GPS-Gerät. „Ich, Chef“, antwortete er grinsend.
„ Na dann mal los, Du Chefpuzzler“, frotzelte ihn Wendt. Klauk knuffte ihn in die Seite.
Die Ermittler gingen zu viert an der Michaels-Kapelle vorbei. Zurzeit zierte das schöne alte Gebäude ein Baugerüst. Es wurde renoviert. Sie gingen einen kleinen Umweg über die Straße. Durch das obere Tor gelangte man in den ältesten Teil des Friedhofes. Dort stand sehr prominent ein Grabstein, auf der ehemalige Schüler ihrer Lehrerin eine Dankesinschrift hinterlassen hatten. Bemooste Grabsteine mit alten Inschriften. Lang und schmal. Kreuze. Im Vorbeigehen nahmen sie das kaum wahr. Klauk betrachtete das Display des GPS-Gerätes.
„ Wir müssen in diese Richtung gehen, dort lang“, sagte Klauk. Er
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