Oliver Hell - Das zweite Kreuz
immer“, schrie sie aufgelöst dem ersten Arzt entgegen, der ins Zimmer trat.
„ Medikamente wie immer? Keine Auffälligkeiten?“, fragte der Arzt. Er tastete nach dem Puls der Patientin, die von der Schwester nicht angerührt worden war.
„ Schwacher Puls“, stieß er hervor und leuchtete mit seiner Lampe in die weit aufgerissenen Augen der Frau, „Keine Reflexe. Ich denke, sie hat einen anaphylaktischen Schock.“
Er dreht Emilie Walters auf den Rücken und knüllte ihr Kopfkissen zusammen. Das legte er ihr zusammen mit der zusammengewickelten Bettdecke unter die Beine.
„ Haben Sie vielleicht die Medikamente vertauscht?“, fragte der andere Mediziner die Schwester, die noch immer am ganzen Körper zitterte. Der Deckel des Arztkoffers flog auf. Er kramte hektisch darin nach einer Spritze, riss die Folie auf.
„ Nein“, rief die Frau entrüstet, „Ich habe ihr genau die Tabletten gegeben, die in ihrer Schale waren. So etwas passiert mir nicht. Ich bin seit fünfzehn Jahren auf Station“, sagte die Schwester beleidigt. Der Arzt zog ihre Ärmel hoch.
„ Ist was bekannt von Unverträglichkeiten? Ist die Schleimhaut gerötet? Ich sehe keinen Flush und keine Hautrötungen.“ Die beiden Ärzte suchten fieberhaft nach einer Diagnose.
„ Nein, auf dem Patientenblatt ist nichts vermerkt“, versicherte die Schwester. „Wir können erst Adrenalin oder Antihistaminika geben, wenn wir sicher sind.“
„ Beta 2 kannst Du auch vorher schon geben, zur Prophylaxe“, sagte der jüngere der beiden Ärzte. Er war erstaunt über die Klarheit in seiner Stimme. Sein Kollege war auch gleichzeitig sein Vorgesetzter.
„ Mir ist das hier alles nicht geheuer. Die Symptome sind unklar. Wir sollten schnellstens ihr Blut untersuchen.“
Auf dem Gesicht des Mannes war der Zweifel förmlich abzulesen.
„ Was denkst Du?“
„ Wenn ich nicht wüsste, dass es nahezu unmöglich ist, ich würde auf Gift tippen“, sagte er und war sich der Ungeheuerlichkeit der Worte bewusst.
Sein Kollege stierte ihn ungläubig an. „Gift? Hier in der Klinik?“
Der Arzt spannte die Halsmuskeln an und zog die Schultern nach oben.
„ Schaffen wir sie auf die Intensiv. Die sollen sich kümmern. Schwester veranlassen Sie das, aber fix. Ich rufe selber auch noch an und schildere die Symptome.“
*
Nachdem sie die Vorzimmerdame in der archäologischen Fakultät hinter sich gelassen hatten, warteten Hell und Rosin im Arbeitszimmer von Prof. Dr. Livré. Das Zimmer war vollgestellt mit kleinen Vitrinen, in denen sich mehr oder weniger für Fremde erkennbare Artefakte befanden. Rosin stand gerade vor einer solchen Vitrine und betrachtete interessiert eine verrostete Schwertklinge, als die Türe aufging und ein kleiner Mann mit einem umwölkten Blick das Zimmer betrat.
„ Die Dame, der Herr von der Polizei. Wie kann ich Ihnen dienlich sein?“, fragte er mit seinem breiten Pfälzer Dialekt. Höflich gab er den Beamten die Hand und bot ihnen an, Platz zu nehmen. Rosin wunderte sich darüber, dass er sogar eine Art Diener machte. Ein Universitätsprofessor hatte so eine Begrüßung sicher nicht mehr nötig. Umso sympathischer war er ihr sofort.
„ Wir ermitteln in einem sehr speziellen Fall. Es geht um die Entführungen. Sicher haben Sie davon in der Presse gehört“, sagte Hell und wartete die Reaktion des Mannes ab.
„ Ja, habe ich. Aber nur so am Rande muss ich zugeben“, antwortete er mit einem Lächeln.
„ Im Zuge der Ermittlungen sind wir auf den Namen Günther Adelberg gestoßen. Kennen Sie den Mann?“, fragte Rosin.
Er sprang auf. „Hat Ihnen meine Sekretärin etwas zu trinken angeboten? Mein Gott, wo sind denn meine Manieren geblieben!“ Schon war er hinter seinem Schreibtisch hervorgesprungen und öffnete die Türe zum Vorzimmer. Er orderte eine Flasche Sprudel und drei Gläser. Hell und Rosin betrachteten sein Treiben.
„ Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung, aber ich hatte heute eine unliebsame Entscheidung zu treffen.“ Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, faltete die Hände und sprach weiter. Dabei wirkte er, als müsse er die Erinnerungen aus einer tief vergrabenen Schatzkiste hervorholen.
„ Günther Adelberg war einer meiner liebsten Kollegen. Wir waren damals alle total entsetzt, als wir von seinem Tod erfuhren. Ich war damals in Peru, als morgens die Nachricht ankam.“ Er schüttelte den Kopf und knetete an seinen Fingerknöcheln.
„ Waren Sie befreundet“, fragte Rosin.
Es dauerte ein
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