Oliver Hell - Das zweite Kreuz
Als sie endlich im Präsidium ankamen, waren Wendt und Klauk auch schon wieder dort.
Die Untersuchung bei Olbrichs hatte keinen konkreten Hinweis erbracht. Die KTU würden am nächsten Tag erneut hinfahren. Zwei Mitarbeiter würden Nachtschicht einlegen, um die Akten zu wälzen, die sie jetzt mitgenommen hatten. Sobald sie etwas Brauchbares fänden, würden sie Bescheid sagen. Klauk hatte beim Einwohnermeldeamt erfahren, dass Ingo Adelbergs letzter Wohnort in Bonn lag. Dort wohnte er aber schon seit Monaten nicht mehr. Die Nachbarn gingen davon aus, er wäre auf einer Grabung in Südamerika.
*
In den Räumen der Gerichtsmedizin lag ein fremdartiger Duft. Dr. Beisiegel hatte sich bereits daran gewöhnt. Der Geruch entströmte der Mumie, die seit einigen Stunden auf dem Obduktionstisch lag.
Sie erinnerte sich an ihrem Besuch in Palermo. Es war einer der skurrilsten und zugleich beklemmendsten Orte, die sie in ihrem Leben besucht hatte. Dort gab es einen unterirdischen Friedhof, auf dem sich beinahe zweitausend Mumien versammelt hatten. Seit Jahrhunderten lagen, oder hingen sie dort; im Begriff sich langsam aufzulösen.
Sie rief sich die Bilder wieder ins Gedächtnis. Ein Teil der Stirn hatte sich bei einigen bereits zersetzt, Schädeldecken lösen sich ab. Löcher fraßen sich durch Wangen und Augenhöhlen. Unterkiefer kippen weg. Ohren schrumpeln. Haut hing wie Leder in Fetzen. Oft sacken die Köpfe wegen morscher Halswirbel zur Seite oder nach hinten, noch häufiger nach vorn. Manche Mumien wirken regelrecht grotesk, andere wie Statisten in einem Horrorfilm. Sie schob die Gedanken beiseite.
Die Leiche, die vor ihr auf dem Tisch lag, roch nach Leder und Harz. Ein paar Stunden hatte sie vor dem Rechner verbracht, um sich in das Thema einzulesen. Jetzt war sie sicher, dass sie den Leichnam unversehrt belassen konnte. Es würde genügen, ihn durch ein MRT zu untersuchen. Dabei würde man sehen, ob sich die Organe noch im Körper befanden, oder ob sie vor der Mumifizierung entnommen wurden. So würden es die alten Ägypter getan haben. In einer halben Stunde holte ein Krankenwagen die Mumie ab. Es würde das erste Mal sein, dass sie einen Toten abholten. Ebenfalls das MRT-Gerät hätte eine Premiere. Auch hier kam das erste Mal ein mumifizierter Toter zur Untersuchung.
Alles, was Dr. Beisiegel bis dahin tun konnte, war eine Gewebeprobe zu entnehmen, um nachzuweisen, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um Günther Adelberg handelte. Ebenso konnte man mit der Probe nachweisen, ob es sich bei dem Tod von Adelberg womöglich um ein Verbrechen handelte. Mit viel Glück konnte man vielleicht sogar noch Gift nachweisen.
Wer machte sich so viel Mühe, einen Leichnam einzubalsamieren, wenn er nicht etwas vertuschen wollte?
Giftmorde hatten bis heute kaum etwas von ihrer schaurigen Faszination verloren, obwohl sie mittlerweile doch aus der Mode gekommen sind. Was bringt es auch, den eifersüchtigen Ehemann oder die steinreiche Erbtante mit Arsen, Eisenhut oder Thallium ins Jenseits zu befördern, wenn das Gift wenig später doch einwandfrei im Körper des Leichnams identifiziert und der Täter so überführt werden kann?
Hochmoderne Analysemethoden wie die Hochdruck-Flüssigkeitschromatografie, oft gekoppelt mit Verfahren der Massenspektrometrie, lassen kaum einem Gift die Chance, unentdeckt zu bleiben. Und so verwunderte es nicht wirklich, dass Giftmorde heute eher Seltenheitswert hatten.
Urin, Blut, und Haare. Dr. Beisiegel wusste trotzdem als Medizinerin genau, welche Körperflüssigkeiten und Organe eines Toten benötigt wurden, um Toxine nachweisen zu können.
Die Toxikologen nahmen alles, was sie kriegen konnten – und das hing ganz entscheidend von den Ursachen und Umständen des Todes ab. Klassischerweise werden nach dem Tod jedoch zumindest drei Proben untersucht. Es wurde eine Blutprobe aus der Oberschenkelvene, eine Probe des Mageninhalts und eine Urinprobe genommen.
Dabei reichten schon kleine Mengen aus, um zuverlässige Untersuchungsergebnisse zu bekommen. Konnten Blut und Urin nicht mehr gewonnen werden, waren Proben aus Muskel-, Nieren- und Lebergewebe gute Alternativen.
Sie erinnerte sich daran, wie sie in der Vorlesung damals dem Professor die Frage stellte, wie man anhand dieser Proben etwas erkennen konnte. Seine Antworten hallten jetzt in ihrem Kopf wieder.
„ Das Blut, meine Damen und Herren, gibt Aufschluss über Substanzen, die zum Zeitpunkt des Todes im Organismus
Weitere Kostenlose Bücher