Oliver Hell - Das zweite Kreuz
Plan war es gewesen, schnell ein paar Neuigkeiten zu erfahren, um dann sofort wieder ins Präsidium zu fahren. Doch das war nicht gelungen. Der Bruder von Emilie Walters war nicht aufnahmefähig. Es dauerte eine geraume Weile, bis er sich so weit gefasst hatte, dass er in der Lage war zu sprechen.
Jetzt saßen sie auf dem Flur vor der Intensivstation. Dort war der Zutritt für die drei Beamten nicht gestattet. Walters saß vor ihnen, den Kopf in den Händen vergraben. Ein Häufchen Elend.
„ Sie war so verstört. Mensch, wieso bin ich nur so, wie ich bin? Hätte ich mehr Geduld gehabt, dann hätte sie vielleicht ihr Geheimnis gelüftet.“
Er sprach in Richtung seiner Oberschenkel.
Als er aufsah, waren die Tränenspuren auf seinen Wangen deutlich zu sehen.
„ Es würde uns helfen, wenn Sie uns sagen würden, worüber sie gesprochen haben. Manchmal fällt uns als Ermittler etwas auf, was den Beteiligten nicht aufgefallen ist“, sagte Wendt ungewöhnlich gefühlvoll.
„ Was sie gesagt hat? Ich kann es Ihnen noch wortwörtlich sagen …“ Er machte eine kleine Pause, „Sie sagen, ich hätte einen Realitätsverlust. Realitätsverlust bedeutet ein Verkennen, Missdeuten realer Situationen und Zusammenhänge, die sich plötzlich gegen dich richten. Du spürst, dass du die Kontrolle behalten musst, ansonsten könnte deine Vernichtung drohen. Dies macht natürlich wahnsinnig Angst, Todesangst, Vernichtungsangst und deine aufkommende und zunehmende Aggressivität kann dir keiner verübeln ... das hat sie gesagt. Sie sprach von Vernichtung. Hat sie es geahnt, dass man versuchen würde, sie umzubringen? Hat sie deshalb die Kranke gespielt? Ich mache mir solche Vorwürfe, verstehen Sie?“
Er schlug mit den Fäusten mehrmals hart auf seine Oberschenkel.
Wendt verstand seine Worte. „Ihre Schwester ist eine erwachsene Frau. Wenn sie etwas erfahren hatte, was ihr gefährlich werden konnte, dann stand ihr jederzeit die Türe der Polizei offen.“
„ Auch wenn Sie dabei beichten müssen, dass Sie vermuten, ihr Vater sei ein Mörder? Auch dann?“ In seinen Augen sah Wendt die Trauer und Verzweiflung.
„ Nein, ich weiß es nicht, was ich dann getan hätte“, sagte Rosin ohne Umschweife.
„ Wann können die Ärzte etwas Definitives sagen?“, erkundigte sich Klauk leise, in der Hoffnung, dass Walters es ihm nicht übelnahm.
Walters sah zu ihm herüber. „Keiner sagt mir etwas Genaues. Sie stirbt vielleicht heute noch.“ Eine Träne lief über seine Wange.
„ Sehen Sie es doch positiv. So lange, wie ihnen keiner etwas Schlimmes sagt, ist auch noch Hoffnung.“ Rosin legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. Er sah zu ihr hinauf. „Danke.“
„ Schmerz ist manchmal nicht in Worte zu fassen“, sagte Wendt. Rosin schaute verwundert hinüber zu ihm. Solche Worte kamen doch sonst nicht von ihrem coolen Kollegen. Verdrückte sich der Kerl etwa gerade eine Träne? Jedenfalls wandte er sein Gesicht ab, nahm sich ein Taschentuch und putzte sich verräterisch die Nase. Sein verstohlener Seitenblick zu ihr herüber verriet ihr, dass sie Recht hatte.
„ Was machen wir? Bleiben wir noch hier, bis wir ein Ergebnis haben?“, fragte Klauk.
„ Ja, sicher, wir müssen wissen, ob es ein Mordanschlag war“, antwortete Wendt und steckte sein Taschentuch in die Hosentasche.
Klauk nahm sein Handy und telefonierte mit Hell. Er teilte ihm mit, dass sie noch eine Weile im Krankenhaus bleiben würden. So lange, bis sie eine Aussage von den Ärzten hatten.
*
Der kleine Ausflug von Günther Adelberg dauerte genau drei Stunden. Dann lag er wieder auf dem Sektionstisch der Gerichtsmedizin in der Stiftsstraße. Zusammen mit ihm kam ein vorläufiger Befund an. Dr. Beisiegel hatte es dringend gemacht, daher ging die Untersuchung auch so zügig vonstatten. Unter normalen Umständen hätte sie darauf einige Tage warten müssen. Da es sich hier aber um eine Untersuchung handelte, die von immenser Wichtigkeit in einer Ermittlung in einem Kapitalverbrechen war, machte man eine Ausnahme.
„ Wenn ich Anfang der nächsten Woche ein Ergebnis hätte, wäre das großartig, aber wenn Sie mir heute noch einen groben Überblick verschaffen könnten, könnte ich den Kollegen von der Kripo damit sehr helfen“, hatte sie den leitenden Arzt am Telefon beinahe angebettelt. Der versprach ihr darauf eine bevorzugte Behandlung der Untersuchung.
Sie las das Schreiben der Kollegen zum zweiten Mal. In knappem Deutsch stand dort vermerkt, dass
Weitere Kostenlose Bücher