Oliver - Peace of Mind
die Ferien vorbei waren. Er lud mich ein,
noch mit zu ihm zu kommen. Er zeigte mir die Wohnung: ein großer Flur, rechts
ein gemütliches, hell eingerichtetes Wohnzimmer, daneben das Zimmer seiner
Mutter. Gerade durch ein Bad, in dem alles in Weiß gehalten war. Links die
Küche und dann das Kinderzimmer, das er sich mit seinem älteren Bruder Dave
teilte. Über Daves Bett hingen Bravoposter von Nena. Über Olivers Bett hingen
Poster von Blondie und Kim Wilde. Und die waren beide - wie ich es nicht anders
erwartet hätte – blond.
In der zweiten Schulwoche des Jahres 1984 nahm ich Oliver auch mit in
unsere Wohnung. Papa und Monika waren noch arbeiten. Wie jeden Nachmittag war
ich ein paar Stunden allein zuhause. Es war der 12. Januar. Wir saßen beide in
meinem Kinderzimmer. Der große Junge wirkte so falsch in meinem ach so süßen Mädchenzimmer.
Selbst die Deckenlampe hing viel zu tief für ihn.
Wir saßen artig nebeneinander auf meinem Bett, als er sich plötzlich
mitten in meinem belanglosen Satz über mich beugte und küsste.
Und von da an vergaßen wir ein Jahr lang die Welt um uns herum. Sie
spielte einfach keine Rolle mehr.
Frühjahr 1984
Es war kein romantischer Kuss. Olli war nicht romantisch. Olli war
leidenschaftlich. Und verrückt. Er liebte ganz oder gar nicht. Dazwischen gab
es bei ihm nichts.
Hatte er mich zuvor mit Nichtachtung gestraft, so liebte er mich jetzt
mit Haut und Haar. Immer und zu jeder Zeit. Er war unermüdlich. Wann immer er
mich sah, stürmte er auf mich zu und schlang seine Arme um meinen winzigen
Körper. Er war so viel mehr als ich: Körper und auch Lebendigkeit. Und im
Gegensatz zu mir schien er nie Angst vor irgendetwas zu haben.
Von allen Seiten wurde Druck auf mich ausgeübt. Mein Vater fand die
Familie nicht angemessen. Meine beste Freundin fand, ich „redete schon genauso
asozial wie er.“ Sie wohnte an der Alster und konnte dies nicht tolerieren.
Papa wohnte zwar nicht an der Alster, hätte aber gern so getan, als ob. Ätzend!
Die Schule beschwerte sich über meine schlechten Leistungen. Die waren
zwar schon vorher schlecht gewesen, aber nun hatte man endlich einen Schuldigen
gefunden. Und der hieß Oliver.
Aber ich hielt stand. Was kümmerte mich die Welt? Ich ging gar nicht mehr
zur Schule. Ich verbrachte die Vormittage lieber mit Olli im Bett. Es gab so
viel für ein fünfzehnjähriges Paar zu erforschen und auszuprobieren. Beide
waren wir nicht gerade mit Nähe und Wärme überschüttet worden in unserem bisherigen
Leben. Unsere Eltern, das heißt mein Vater und seine Mutter, fanden es
wichtiger, möglichst viel Geld zu verdienen.
Umso mehr klammerten wir uns jetzt - ausgehungert nach Liebe -
aneinander. Wenn wir uns nicht im Bett aneinander und aufeinander und
ineinander kuschelten, lagen wir in Bettys weiß gekacheltem Badezimmer in der
Badewanne.
Wir sahen uns dann an. Wir erkundeten auch hier alles, was möglich und
unbekannt war. Wir wuschen uns gegenseitig und waren die besten Zuhörer des
anderen. Olli träumte von Markenklamotten und Geld, ich von Freiheit und nichts,
denn mein Traum lag schon vor mir.
Nach dem Baden hingen flauschige weiße Badelaken für uns bereit. Betty
musste Berge davon für uns gewaschen haben, denn es hingen täglich frische über
der Stange.
Ich lachte, wenn Olli vor dem Badezimmerspiegel seine Muskeln spielen
ließ. Und er lachte, als er mir versuchte beizubringen, wie ein Mann im Stehen
pinkelt. Olli war wunderbar gebaut, aber für mich war er immer ein Stück zu
kurz, um damit die Mitte zu treffen. Also zog ich so lange, bis er gar nicht
mehr pinkeln konnte.
Wir hatten Spaß und waren glücklich!
Mehr brauchten wir nicht.
Getrübt wurde unser Glück ausschließlich von den Erwachsenen. Papa
arbeitete zwar tagsüber, aber er hasste es, wenn ich abends zu lange bei Olli
blieb. Er fand, ich vernachlässige unsere Familie. Ich fand das war Blödsinn.
Waren wir doch noch nie eine Familie gewesen, mit seiner neuen Freundin Monika.
Ich wollte sie nicht. Und sie wollte mich nicht.
Manchmal am Wochenende, da schlief ich bei Olli. Betty wusste das und es
störte sie nicht. Was sollte nachts passieren, was wir nicht auch tagsüber taten,
befand sie zu Recht. Wir weihten dann Sandy ein. Sie war übrigens die Einzige,
die Olli mochte und mir nicht ständig Vorwürfe bezüglich meiner Freundeswahl
machte. Alle anderen redeten mir immer wieder Schuldgefühle ein. Alle wussten
auf
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