Oliver Twist
Fensterstock beobachten konnte. Ebenso konnte man, wenn man das Ohr an die Scheidewand hielt, heimlich genau hören, worum sich das Gespräch drehte. Der Wirt der Schenke hatte seit ungefähr fünf Minuten die Augen nicht von diesem Ausguck entfernt, und Barneyhatte kaum den neuen Gästen seine Auskunft übermittelt, als Fagin auf einem abendlichen Geschäftsgang begriffen an den Schenktisch trat, um nach dem einem oder dem andern seiner jugendlichen Zöglinge nachzufragen.
»Still«, flüsterte Barney, »Fremde sind heraußen.«
»Fremde?« wiederholte der alte Mann leise.
»Mir scheint, es sind Schnorrer«, setzte Barney hinzu, »vom Land hereingekommen. Aber es wär so was für Euch, Fagin, ich müßt mir schon sehr irren.«
Fagin schienen diese Worte sehr zu interessieren. Er stieg auf einen Stuhl, legte vorsichtig das Gesicht an die Scheibe und beobachtete Mr. Claypole, der fleißig dem Teller mit dem kalten Fleische und einem Glas Porter zusprach, dabei Charlotte nur homöopathische Dosen der beiden Genußmittel verabreichend.
»Hm«, flüsterte Fagin, sich nach Barney umsehend, »mir gefällt der Bursch. Er wird uns noch nützlich werden. Der weiß doch jetzt schon in jungen Jahren, wie mer e Mädel zu behandeln hat. Sein Sie still jetzt und lassen Se mal hören, was die zusammen schmusen.«
Er legte wieder das Auge an die Scheibe und das Ohr an die Scheidewand und horchte gespannt mit gierigem verschlagenem Ausdruck im Gesicht, so daß er aussah wie ein alter Kobold.
»So, jetzt hab ich vor, den feinen Herrn zu spielen«, sagte Mr. Claypole und streckte die Beine weit aus. »Jetzt wird nicht mehr von alten Särgen geschwätzt, Charlotte, und wenn’s dir paßt, kannst du eine feine Dame werden.«
»Das möcht ich gewiß, mein Junge, nur allzu gern«, seufzte Charlotte, »aber nicht jeden Tag kann man einen Geldkasten ausräumen und auch alle Tage kommt man nicht so heil davon.«
»Ach was, Geldkasten hin, Geldkasten her, ins Feuerdamit«, sagte Mr. Claypole. »Es gibt noch andre Sachen, die man ausräumen kann, als Geldkasten.«
»Was denn für welche?« fragte Charlotte.
»Taschen, Damenretikules, Wohnungen, Postwagen, Bankinstitute«, zählte Mr. Claypole auf und erhob sich mit dem Bierglas in der Hand von seinem Sitz.
»Aber das kannst du doch nicht alles machen, mein Liebling«, wendete Charlotte ein.
»Ich werde mich nach entsprechender Gesellschaft umsehen«, erwiderte Noah. »Es werden sich schon Leute finden, die uns, so oder so, brauchen können. Du wiegst doch selber so fufzig Frauenzimmer auf. Ich hab in meinem ganzen Leben noch kein so ein durchtriebenes Mensch gesehen, wie du es bist.«
»O Gott, wie nett du reden kannst«, rief Charlotte und drückte ihm einen Kuß auf sein scheußliches Gesicht.
Mr. Noah machte sich würdevoll von ihr los. »Weißt du, was ich gern möchte«, fing er wieder an. »So das Oberhaupt werden von irgendeiner Bande und die Kerle malträtieren und hinter ihnen her sein, ohne daß es einer auch nur merkt. Das wär so das Richtige für mich, aber rentieren müßt es sich, und zwar sehr. Wenn wir mit ein paar Leuten von der Sorte in Berührung kommen könnten, dann wär’s nicht zu teuer bezahlt, die Zwanzig-Pfund-Note, die du stibitzt hast, dafür anzulegen.«
Dabei steckte Mr. Claypole mit der Miene tiefster Weisheit sein Gesicht in den Bierkrug, schüttelte den Inhalt kräftig, nickte Charlotten gnädig zu und goß sich einen mächtigen Schluck hinter die Binde. Er überlegte eben, ob er noch einen zweiten Schluck machen sollte, da ging die Türe plötzlich auf und ein Fremder trat herein.
Dieser Fremde war Mr. Fagin. Er sah außerordentlich leutselig und liebenswürdig drein, machte einen tiefen Kratzfußbeim Nähertreten und setzte sich an den Nebentisch, bei dem grinsenden Barney sich etwas zum Trinken bestellend.
»E schener Abend, heinte, Sir. Aber es is eppes kalt«, sagte Fagin und rieb sich die Hände. »Se kommen wol vom Land, wie jach seh.«
»Wieso sehen Sie das?« fragte Noah.
»Mir haben doch in ganz London nix ä so viel Staub, wie Sie da auf de Fieß haben«, erwiderte Fagin und deutete auf die Schuhe des Pärchens.
»Sie sind ein gescheiter Mensch«, lobte Noah. »Hast du gehört, Charlotte?«
»Hat man netig, lieber Freind, in so aner Stadt wie London gescheint zu sein«, versetzte der Jude und dämpfte seine Stimme zu vertraulichem Flüstern. »Ich soll ä so leben.«
Dabei schlug sich Fagin mit dem rechten Finger aufs
Weitere Kostenlose Bücher