Oliver Twist
schön wie seine Schwester, und je genauer ihn der alte Offizier kennen lernte, desto lieber gewann er ihn. Ich wollte, es wäre dabei geblieben. Aber eines Tages ging es seiner Tochter geradeso wie ihm.«
Der alte Herr hielt inne. Monks biß sich auf die Lippen und schlug die Augen zu Boden.
»Nach einem Jahr galt Ihr Vater als der Bräutigam des Mädchens«, fuhr der alte Herr fort. »Und dieses edle, makellose Mädchen schenkte ihm ihre erste, wahre und innige Liebe.«
»Ihre Erzählung ist ein wenig langwierig«, bemerkte Monks, unruhig auf seinem Sessel hin und her rückend.
»Wahre und traurige Geschichten«, versetzte Mr. Brownlow, »pflegen immer lang zu sein. Wäre sie unwahr und glücklich gewesen, wäre sie wahrscheinlich sehr kurz. Eines Tages starb jener reiche Verwandte Ihres Vaters, dem zuliebe die erste unglückliche Ehe geschlossen worden war, und hinterließ Ihrem Vater als Heilmittel für sein verpfuschtes Leben – Geld. Ihr Vater mußte nach Rom reisen, wo der Erblasser gestorben war, um die Angelegenheiten zu ordnen.Er erkrankte am selben Tag, als er ankam, und starb kurz darauf ohne Testament, so daß sein ganzes Vermögen Ihrer Mutter und Ihnen zufiel.«
Monks hatte den Atem angehalten und hörte jetzt Mr. Brownlow gespannt zu. Als dieser schwieg, fuhr er sich erleichtert mit dem Taschentuch über sein erhitztes Gesicht.
Den festen Blick auf ihn gerichtet, fuhr Mr. Brownlow fort: »Bevor Ihr Vater jedoch England verließ, kam er zu mir.«
»Davon hab’ ich noch nie gehört«, unterbrach ihn Monks in einem Ton, der Unglauben ausdrücken sollte, jedoch nur schlecht seine unangenehme Überraschung verbarg.
»Er kam zu mir und ließ unter anderem ein Bild zurück, das er selbst gemalt und das das unglückliche Mädchen darstellte, das er ja nicht mit nach Rom nehmen konnte, da die Reise zu plötzlich gekommen war. Er war voll Angst und Unruhe und von Gewissensbissen fast bis zum Schatten abgezehrt. Er sprach verstört von Ruin und Entehrung, an denen er schuld sei, und vertraute mir an, sein Plan sei, alles, was er besäße, zu Geld zu machen, um seiner Frau und Ihnen einen Teil davon auszusetzen und dann England zu verlassen. Ich erriet, daß er vorhatte, nicht allein zu fliehen. Aber selbst mir gegenüber, seinem alten Jugendfreund, dessen innige Liebe in der heiligen Erde wurzelt, die jetzt ein liebes Wesen deckt, das uns beiden teuer war – selbst mir gegenüber sprach er sich nicht völlig aus und versprach mir bloß, mir noch einmal zu schreiben, mir alles zu sagen und mich dann zum letztenmal auf dieser Erde zu besuchen. Ich erhielt aber weder einen Brief von ihm, noch habe ich ihn je wiedergesehen.«
Nach kurzem Schweigen fuhr Mr. Brownlow fort:
»Als ich hörte, daß er tot war, begab ich mich an denSchauplatz seiner – wie die Welt es nennen würde – sündigen Liebe, um dem Mädchen, die ihm seine Liebe geschenkt hatte, eine Zuflucht anzubieten. Die Familie hatte jedoch kurze Zeit vorher die Grafschaft verlassen und war bei Nacht und Nebel fortgezogen. Weshalb und wohin, konnte ich nicht erfahren.«
Monks atmete auf und lächelte triumphierend.
»Als Ihr Bruder«, setzte Mr. Brownlow, seinen Stuhl näher an Monks heranrückend, fort, »als Ihr Bruder – ein elendes verwahrlostes Kind – durch eine Fügung des Himmels zu mir geführt und vom Verderben gerettet wurde –«
»Was sagen Sie da!« rief Monks.
»Durch mich aus einer Umgebung von Verbrechern errettet wurde –«, wiederholte Mr. Brownlow. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß meine Erzählung Sie interessieren würde! Ihr verbrecherischer Genosse hat, wie ich merke, meinen Namen verschwiegen, da er ja nicht annehmen konnte, er sei Ihnen bekannt. – Als das arme Kind, wie ich vorhin sagte, durch mich befreit wurde und in meinem Haus nach schwerer Krankheit genas, da fiel mir schon die Ähnlichkeit mit dem Bilde auf, das mir Ihr Vater gab. Als ich das Kind das erstemal in seinem Elend sah, lag ein Ausdruck in seinem Gesicht, der mich berührte wie ein Traumgesicht aus alter Zeit. Daß das Kind später entführt wurde, ehe ich alles Nähere über seine Vergangenheit erfuhr, das wissen Sie so gut wie ich. Das brauche ich Ihnen nicht erst zu erzählen.«
»Wieso nicht?« fragte Monks hastig.
»Weil Sie es bereits wissen.«
»Ich?«
»Lassen Sie die Lügen beiseite«, versetzte Mr. Brownlow kühl. »Ich werde Ihnen beweisen, daß ich noch viel genauer eingeweiht bin.«
»Sie können mir nichts beweisen! Sie
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