Olivers Versuchung
bewusst wurde. Nachdem sie in ihrem Gefängnis ständig Testosteron ausgesetzt gewesen war, erwartete sie nun, dass der Anblick solcher Männlichkeit sie kalt lassen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Das gleiche Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, als sie ihn geküsst hatte, erfüllte sie jetzt wieder. Und dieses Mal konnte sie dieses Gefühl nicht als eine Nebenwirkung der Angst abtun, die sie während ihrer Flucht erlebt hatte.
„Ich bin . . . äh“, murmelte sie und fragte sich, was sie antworten sollte. War es klug, zuzugeben, dass sie sich nur allzu deutlich daran erinnerte, was geschehen war?
Die Ärztin ging in die Hocke, um sich auf gleiche Augenhöhe mit ihr zu bringen. „Du hast einen massiven Blutverlust erlitten. Erinnerst du dich, was passiert ist?“
Der Blutverlust! Ihre Hand kam instinktiv hoch, um die Bisswunden, die der Vampir hinterlassen hatte, zu berühren, aber in letzter Sekunde packte sie stattdessen das Kissen und zog es auf ihren Schoß. Sie konnte diesen Fremden nicht von den Vampiren erzählen. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit ihr machen würden, wenn sie das tat. Erstens würden sie ihr sowieso nicht glauben. Und dann? Würden sie sie von einem Psychiater untersuchen lassen? Sie womöglich in eine geschlossene Anstalt einweisen? Nein, diese Verzögerung konnte sie sich nicht leisten. Sie musste ihre Eltern erreichen und ihnen mitteilen, dass sie wohlauf war. Und dann musste sie Hilfe für die anderen Frauen finden – sie hatte ein Versprechen gegeben, und sie würde es nicht brechen.
„Blutverlust?“, fragte sie und hoffte, dass ihre Stimme verwundert klang. „Was ist passiert?“
Oliver ging nun auch in die Hocke und brachte sein Gesicht näher an ihres heran, sodass sie ihm in die Augen sehen konnte. „Als ich dich gefunden habe, warst du verletzt und hast stark geblutet. Jemand hat dich angegriffen. Du warst vor jemandem auf der Flucht.“
Ursula schüttelte langsam den Kopf und tat so, als ob sie versuchte, sich an die Ereignisse zu erinnern. „Ich weiß nichts davon. Ich erinnere mich nicht, angegriffen worden zu sein.“
„Aber du hast es mir doch gesagt“, bestand Oliver auf der Tatsache. Seine Stimme klang angespannt, und er runzelte die Stirn.
Die Ärztin legte eine Hand auf seinen Arm, um ihn zu unterbrechen. Dann blickte sie Ursula an. „Ich habe dich in einem sehr schlechten Zustand vorgefunden. Dein Blutdruck war bedrohlich niedrig und dein Herz war nahe dran auszusetzen. Ich habe dir eine Bluttransfusion gegeben.“
Ursulas Herzschlag verdoppelte sich sofort. Sie wusste, dass es knapp gewesen war. Sie wusste, dass sie dem Blutegel erlaubt hatte, mehr von ihrem Blut zu trinken als jedem anderen vor ihm, aber es war der einzige Weg gewesen, ihn zu betäuben. Doch sie konnte dies ihren beiden Rettern nicht gestehen.
„Danke, dass Sie mein Leben gerettet haben, Dr. Giles.“
„Ich bin froh, dass ich in der Nähe war. Nun erzähle mal, woran du dich erinnerst!“
Ursula warf einen vorsichtigen Blick in Olivers Richtung und bemerkte, wie sich sein Mund öffnete, als wollte er etwas sagen. Um glaubwürdiger zu wirken, drückte sie ihre Handfläche gegen ihre Schläfe. „Ich weiß es nicht. Ich bin nach der Vorlesung am Abend zu Fuß nach Hause . . . “
„In der Bayview? Da draußen gibt es nirgends Vorlesungen“, protestierte Oliver und beugte sich zu ihr.
„Was für eine Bayview?“, unterbrach sie ihn.
„Der Bayview Stadtteil von San Francisco. Das ist eine ziemlich schlechte Gegend.“
Also war sie in San Francisco. So viele Tausend Kilometer von zu Hause weg. Auf der anderen Seite des Kontinents.
„Ich erinnere mich nicht, wie ich dort hingekommen sein soll.“ Sie ließ den Tränen, die sie seit drei Jahren unterdrückt hatte, freien Lauf, um ihren Lügen Glaubwürdigkeit zu verleihen. „Ich kann mich an nichts erinnern, verstehst du das nicht?“
Ursula fing den missbilligenden Blick auf, den Dr. Giles Oliver zuwarf.
„Aber das ist unmöglich“, widersprach dieser noch einmal. Dieses Mal griff er nach ihr und legte seine Hand auf ihren Unterarm. „Du musst dich erinnern. Du hast mich gebeten, dir zu helfen.“ Seine Augen bohrten sich in ihre, und das Blau darin strahlte voller Intensität.
Einen Moment lang wollte sie sich ihm nähern und ihm versichern, dass er recht hatte und dass sie sich an jede Sekunde ihrer Begegnung erinnerte: die Art und Weise, wie er sie umarmt und seine Lippen auf ihre gepresst hatte.
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