Oliviane – Der Saphir der Göttin
Verstand fürchtete. Nichts von all dem, was bisher geschehen war, hatte ihn so an den Rand seiner Beherrschung gebracht wie der Anblick der zitternden, verletzten jungen Edeldame in den blutigen Laken.
Cocherel hatte sie aus niederen Motiven, aus purer, gemeiner Zerstörungswut vernichtet. Beschmutzt und zu allem Überfluss auch noch tatsächlich verletzt. Der Schwarze Landry starrte auf seine verkratzten Fäuste, dann gab er es endlich auf, sich selbst für etwas zu bestrafen, das er gar nicht verschuldet hatte. Oder doch? Immerhin war er es gewesen, der Oliviane de Rospordon nach St. Cado gebracht hatte.
Er musste die Ruhe bewahren. Es hatte keinen Sinn, alles aufs Spiel zu setzen. Einmal mehr musste er zwischen seinen Gefühlen, seiner persönlichen Sicherheit und seinem Auftrag abwägen.
Aus dem großen Saal drang das Grölen betrunkener Söldner und das schrille Gekreisch der Mägde, die ihnen Gesellschaft leisteten.
Seit der Herzog seine Männer nur noch truppweise und zu ganz gezielten Aktionen einsetzte, lebte der Großteil seines Heeres in der Festung von St. Cado. Die Ställe, Hütten und Häuser der Vorwerke quollen über vor Menschen und Waffen. Der Schwarze Landry wusste wie alle anderen, weshalb Paskal Cocherel sich mit all diesen Männern umgab, weshalb er sie in täglichen Waffenübungen zu einer noch schlagkräftigeren Truppe auszubilden versuchte und ihnen nicht einmal die übliche Winterruhe gönnte.
Die große Auseinandersetzung stand bevor. Die letzte Schlacht zwischen Jean de Montfort, der dem Recht nach seit der Schlacht von Auray über die Bretagne herrschte, und Paskal Cocherel, der sich anmaßte, ihm dieses Recht streitig zu machen. Der Wolf von St. Cado träumte den ehrgeizigen Traum eines Emporkömmlings. Er wollte eine Dynastie von Herrschern und Herzögen gründen und sich für immer in das Buch der Geschichte einschreiben. Womit Landrys Gedanken ganz von selbst wieder den Bogen zu jener Frau geschlagen hatten, die der Alte für diesen Zweck zur Gemahlin nehmen wollte und die er, Landry, nicht aus seinen Gedanken vertreiben konnte!
Oliviane de Rospordon – stolz, hochgeboren, bildschön, aber so rechtlos wie jeder Stein in dieser Mauer. Das Schicksal hatte sie als Frau zur Welt kommen lassen und sie damit zum Handelsobjekt von Vätern, Ehemännern und Politikern gemacht. Dass sie ein Mensch mit Wünschen und Gefühlen war, interessierte niemanden. Sie hatte ihre Pflicht zu tun, zu gehorchen und zu schweigen – und nicht zuletzt jene kostbaren Söhne zur Welt zu bringen, die Paskal Cocherel für so wichtig hielt.
Willst du die Welt und ihre Gesetze ändern? fragte eine bittere Stimme in seinem Kopf. Sie ist freiwillig mit dir nach St. Cado gekommen. Sie akzeptiert, was du nicht wahrhaben willst. Es ist das Los der Frauen, verheiratet zu werden!
Ein Los, das ihn so sehr erbitterte, wie ihn in seinem bisherigen Leben noch nichts erbittert hatte. Konnte er, der Schwarze Landry, dies ertragen, ohne den Versuch zu machen, ihr zu helfen? War er zu so großer Grausamkeit fähig?
Landry umklammerte von neuem das raue Mauerwerk der Zinnen von St. Cado und starrte blicklos in die neblige Nacht hinaus. Er nahm weder die Kälte noch die Feuchtigkeit wahr. In seinem Blut tobte die Erinnerung an verführerische weiche Lippen, die sich unter seinen Küssen öffneten, an süßen Atem, der sich mit dem seinen vermischte, an eine zarte Gestalt, die wie geschaffen dafür war, in seinen Armen zu liegen.
Oliviane erwachte mit einem Gefühl dumpfer Benommenheit. Ihr Kopf lag zentnerschwer auf dem Kissen, und der Rest ihres armen Körpers fühlte sich so zerschlagen und fremd an, dass sie ihre Augen mit einem Seufzer sofort wieder schloss.
»Nicht doch«, brummte eine Frauenstimme im breiten, bretonischen Dialekt. »Bleib bei uns, Mädchen. Du musst das hier trinken, damit es dir besser geht.«
Der Rand eines metallenen Bechers drückte gegen ihre Lippen, während gleichzeitig eine energische Hand ihren Kopf hob, damit sie besser schlucken konnte. Aromatische, warme Flüssigkeit rann in ihre Kehle, und Oliviane schmeckte Kräuter, Honig und eine kräftige Portion Fenchelsamen in dem Getränk.
Sie öffnete die Augen und sah in das breite, faltige Gesicht Avas. Allerdings dauerte es geraume Zeit, bis sie sich an diesen Namen erinnerte und an die nüchterne, unbeteiligte Art, mit der die Magd sonst zu ihr sprach.
»Was ist geschehen?«
Die junge Frau bemühte sich, die wirren Bilder in ihrem Kopf
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